Die Union der enttäuschten Hoffnungen

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Trotz Freihandelsabkommen und Visafreiheit mit der EU hat Moldawien gerade einen Präsidenten gewählt, der das Land wieder näher an Moskau bringen will. Schuld daran tragen die lange von Brüssel gestützten Eliten des Landes. Eine politische Bestandsaufnahme.

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Trotz Freihandelsabkommen und Visafreiheit mit der EU hat Moldawien gerade einen Präsidenten gewählt, der das Land wieder näher an Moskau bringen will. Schuld daran tragen die lange von Brüssel gestützten Eliten des Landes. Eine politische Bestandsaufnahme.

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"Thank you Mr. Putin", sagt Ion Luca in seinem Weinladen. Durchs Fenster scheint die Sonne auf die Regale, die mit ausgesuchten moldawischen Weinen vollgestellt sind. "Ohne die russischen Embargos würde es mich nicht geben." Dieser Satz verlangt nach einer Erklärung. Vieles, was man in diesen Tagen in der ehemaligen Sowjetrepublik mit ihren drei Millionen Einwohnern hört, ist so paradox wie die Worte des jungen Winzers.

Luca, 34, Kurzhaarschnitt, feiner Pulli mit V-Ausschnitt, könnte mit seinem edel eingerichteten Laden so auch in Berlin oder Paris sitzen. Aber vor dem Fenster liegt Chi sinau, die Hauptstadt Moldawiens, das ärmste Land Europas, eingeklemmt zwischen Rumänien und der Ukraine. Draußen vor seinem Laden sieht es aus, als sei die Sowjetunion gerade erst untergegangen. Die Stromkabel hängen in dicken Bündeln über den holprigen, schmutzigen Fußgängerwegen, auch die Straßen sind schlecht und renovierte Gebäude gibt es nur da, wo private Geschäftsleute investiert haben.

Zwischen Moskau und Brüssel

Vor dem Parlament jedoch, einige Gehminuten von hier, flattert neben der blaugelb-roten Trikolore des Landes die blaue Flagge mit den gelben Sternen. Moldawien hat 2014 ein Freihandelsabkommen mit der EU geschlossen, seine Bürger dürfen ohne Visa in die EU reisen.

Und trotzdem haben die Moldawier gerade einen Präsidenten gewählt, der sein Land weg von der EU und näher an Russland führen will.

Was ist nur passiert in dem Land, das europäische Politiker über Jahre als "Erfolgsgeschichte" der Östlichen Partnerschaft verkauften, jenem politischen Programm, mit dem Brüssel sechs ehemalige Sowjetrepubliken näher an die EU führen wollte?

Pirkka Tapiola, ein erfahrener Diplomat, der in den letzten vier Jahren die EU in Moldawien vertreten hat, muss sich winden, um in diplomatischer Sprache der Enttäuschung Ausdruck zu geben, die in Brüssel über das ehemalige Musterkind Moldawien herrscht. "Viele Reformen wurden verabschiedet, aber es mangelt an der Implementierung. Da gibt es viel zu tun", sagt er schließlich im Dachgeschoss der EU-Vertretung.

Es waren schlechte vier Jahre für die EU. Vor einem Jahrzehnt, die Kommunisten waren noch an der Macht, wollten drei Viertel der Moldawier der EU beitreten. Heute, nach acht Jahren unter "proeuopäischen" Regierungen, wollen das nur noch 37 Prozent. Schlimmer noch: 42 Prozent würden gerne der Eurasischen Wirtschaftsunion beitreten.

Europa hat zu lange jenen Eliten vertraut, die sich proeuropäisch gaben, sich aber als korrupt und machtbesessen herausstellten. Das schlägt jetzt auf die EU zurück.

Kein Zweifel, die EU hat Moldawien Möglichkeiten geboten, sich zum Positiven zu verändern.

Schauen wir uns nochmal den Selfmade-Man Ion Luca an. 2006 heuerte er auf einem Weingut am Bodensee an, um zu lernen, wie das geht: Wein produzieren, der sich auch in Europa verkaufen lässt.

Embargo schafft Modernisierung

2006, das war kein Zufall. Russland erließ ein Embargo gegen Wein, Obst und Gemüse aus Moldawien, um die damalige politische Führung gefügig zu machen. Aber der Schuss ging nach hinten los. 2009 vertrieb eine klar proeuropäische Koalition die bestehende Regierung.

Junge Unternehmer wie Luca trieb das Embargo zu der Überzeugung, dass mit Russland kein Staat zu machen ist. Bis 2006 produzierte Moldawien vor allem halbsüße Weine von minderer Qualität für den postsowjetischen Markt, so wie all die Jahrzehnte vor.

"Aber 2006 mussten wir uns eingestehen, dass unseren Wein sonst niemand in der Welt braucht", sagt Luca. Nicht nur er, auch die großen staatlichen Winzereien begannen, andere Rebsorten anzubauen, moderne Technik zu kaufen, trockene Weine zu produzieren. Das russische Embargo ebenso wie die Öffnung des europäischen Marktes gab den Unternehmen des Landes Impulse, die Produktion zu modernisieren.

Für die meisten Unternehmen hat es sich gelohnt. Mit der höheren Qualität landen die Produzenten heute weltweit: in Rumänien, in Italien, in Japan und China.

Als Russland 2013 das nächste Embargo erließ, weil Moldawien das Assoziierungsabkommen mit der EU unterschrieb, waren die Unternehmen besser vorbereitet. Heute liegt der Anteil der moldawischen Exporte in die EU bei 65 Prozent.

Betrachtet man die nackten Zahlen, geht es aufwärts: Das Bruttoinlandsprodukt ist von weniger als 1000 Dollar pro Kopf zur Jahrtausendwende kontinuierlich auf fast 2000 Dollar gewachsen. Überall im Land haben sich westliche Autozulieferer angesiedelt, das Durchschnittseinkommen liegt inzwischen immerhin bei knapp 250 Euro.

Aber die gefühlte Wirklichkeit ist eine andere. Egal, wen man fragt: Über die Hälfte des Bekanntenkreises haben dem Land den Rücken gekehrt, und in den letzten Jahren haben sich auch die 30-bis 40-Jährigen auf den Weg gemacht: nach Russland, nach Rumänien, Italien oder Deutschland. Zum Ende der Sowjetunion hatte das Land 4,5 Millionen Einwohner, 2014 waren es noch knapp drei Millionen. "Wir werden zu einem Land ohne Wirtschaft, bevölkert von Rentnern", sagt die Oppositionelle Maia Sandu.

Die Menschen sind das Warten auf die bessere Zukunft leid. Und besonders die gut ausgebildeten Leute wollen nicht für 200 Euro Autositzbezüge zusammennähen.

In die Parteien der "proeuropäischen" Koalition, die sich seit 2013 mit Korruptionsvorwürfen überzogen, setzen die Moldawier keine Hoffnung mehr. Das Spektakel kulminierte, als Anfang 2015 bekannt wurde, dass ein Netzwerk von Geschäftsleuten eine Milliarde Dollar aus drei Banken des Landes ins Ausland transferiert hatte - ein Achtel des Bruttoinlandsprodukts. Für die gestohlene Milliarde wurde der frühere Premier, den Merkel und andere westliche Staatsführer hofiert hatten, zu neun Jahren Haft verurteilt.

Übrig geblieben ist eine Figur, die das Land und seine staatlichen Institutionen nun weitgehend kontrolliert. Vlad Plahotniuc, 51 Jahre alt, ist der reichste Geschäftsmann des Landes. Ihm gehören Hotels, Fernsehsender und Versicherungen, und seit letztem Jahr ist er Vorsitzender der regierenden "Demokratischen Partei". Plahotniuc hat alle wichtigen Posten mit seinen Leuten besetzt.

Gleichzeitig kehrte Russland zurück: Im November wählten die Moldawier mit Igor Dodon einen Präsidenten, dessen erste Auslandsreise ihn nach Moskau führte, wo er Putin einen edlen Tropfen aus den berühmten Weinkellern von "Cricova" überreichte. Wenige Wochen später reisten Beamte des russischen Verbraucherschutzes nach Moldawien. Die meisten Produzenten dürfen jetzt wieder nach Russland liefern.

Russlands Werben

So lockt Moskau die Moldawier: mit günstigen Gaspreisen, auch mit einer Lösung des Konfliktes um den von Russland unterstützten abtrünnigen Landesteil Transnistrien. Hier, vor der Haustür der Ukraine, würde Putin gerne beweisen, dass es sich lohnt, mit Russland zu kooperieren.

Und das alles, obwohl der Westen bis vor kurzem Milliarden Euro in dieses Land investiert hat. Allein aus Brüssel kamen von 2007 bis 2015 782 Millionen Euro an Hilfsgeldern. Für Reformen, die meist nur auf dem Papier stattfanden. "Die EU war zu lange in ihre Erzählung von der Erfolgsgeschichte Moldawien verliebt", sagt Maia Sandu.

Die 44-Jährige hat in Harvard Ökonomie studiert und war bis 2015 Bildungsministerin des Landes. Im letzten Jahr unterlag sie nur knapp in der Stichwahl dem heutigen Präsidenten. Gerade tourt die zierliche Frau durch die europäischen Hauptstädte, um die Regierungen vor Plahotniuc zu warnen. Der präsentiert sich mit Hilfe einer amerikanischen PR-Firma als einzige Kraft, die den russischen Einfluss eindämmen kann. "Dodon ist für ihn die perfekte Vogelscheuche, gegenüber der er sich profilieren kann", sagt Sandu. Sie ist überzeugt, dass sie im Kampf um die Präsidentschaft auch deswegen unterlegen ist, weil die Partei des Oligarchen für den prorussischen Dodon geworben hat.

Sandu will den Kampf aufnehmen und bei den nächsten Parlamentswahlen mit einer neuen politischen Kraft die Macht des Oligarchen brechen. Die knappe Präsidentschaftswahl hat ihr Mut gemacht. Aber ihr läuft die Zeit davon. "Wir haben ein Zeitfenster von drei oder vier Jahren, bevor wir die kritische Masse verlieren", sagt sie in der Hotel-Lobby in Berlin, "die Menschen, die an die Demokratie glauben, verlassen das Land. Und sie kommen nicht zurück."

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