Die Vereine, Spiegelbilder der Gesellschaft

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Zum Dossier. Statistisch gesehen ist jeder Österreicher Mitglied in einem der rund 100.000 Vereine des Landes. Von der Freiwilligen Feuerwehr bis zum Sport- und Sparverein - es gibt unzählige Bereiche, in denen sich jung und alt engagieren kann. Welche Rolle kann und soll das Vereinsleben in Zukunft spielen?

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Zum Dossier. Statistisch gesehen ist jeder Österreicher Mitglied in einem der rund 100.000 Vereine des Landes. Von der Freiwilligen Feuerwehr bis zum Sport- und Sparverein - es gibt unzählige Bereiche, in denen sich jung und alt engagieren kann. Welche Rolle kann und soll das Vereinsleben in Zukunft spielen?

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Von Auguste Comte, dem Gründer der Soziologie als eigener Wissenschaft, wird berichtet, daß er lange Jahre seines Lebens in seinem Büro im Quartier Latin in Paris vor einem - eine ganze Wand umfassenden - Spiegel gearbeitet habe, um alle seine Bewegungen, von der Mimik bis zur Körpersprache, kontrollieren zu können. Comte war überzeugt davon, daß auch die Wissenschaft von der Gesellschaft, die er zunächst Sozialphysik nennen wollte, dann aber Soziologie benannt hat, (wie andere Wissenschaften) nun in das positive (wissenschaftliche) Stadium eintrete und das theologische und philosophische Stadium hinter sich lasse.

Aber schon Comte war klar, daß er - trotz Spiegel - weder sich selbst und noch weniger die gesamte Gesellschaft präzise und umfassend erkennen könne, sondern daß unsere Erkenntnis immer bruchstückhaft und verzerrt bleibt und das Wissen um die Beschränktheiten schon einen großen Vorteil darstellt.

Daran hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert, außer daß sich manche Soziologen zeitweise im Erkenntnisvermögen stark überschätzt und manche Bevölkerungsgruppen dies auch geglaubt haben.

Heute ist einerseits das Bewußtsein um die Beschränktheit (auch) sozialwissenschaftlicher Erkenntnis wieder lebendig und wird andererseits - allerdings im deutschsprachigen Raum (wahrscheinlich wegen des vorherrschenden verkürzenden ökonomistischen Denkens) mit entsprechendem time lag - das Wissen um die Unverzichtbarkeit sozialer beziehungsweise gesellschaftlicher Faktoren für die Entwicklung von Regionen, Ländern, Subregionen und Einzelindividuen wieder stärker; Sozialkompetenz und Teamgeist scheinen in dem Maße an Bedeutung zu gewinnen, in dem sie weniger vorhanden sind.

Über Einladung zweier österreichischer Bundesländer und in Zusammenarbeit mit einer internationalen Forschergruppe hat sich der Autor theoretisch und empirisch mit der Bedeutung von Vereinen und der Wichtigkeit von Freiwilligenarbeit für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und insbesondere für den sogenannten Dritten Sektor beschäftigt.

Für die Demokratie in einem Land haben die sogenannten intermediären Strukturen, zwischen den einzelnen Staatsbürgern und Wirtschaftssubjekten und den staatlichen Einrichtungen insbesondere in Gesetzgebung, Regierung und Verwaltung, große Bedeutung. Der große französische Institutionenforscher Maurice Hauriou hat drei Aspekte dieser Institutionen hervorgehoben: die Werkidee - heute würden wir vielleicht sagen: das Leitbild - die zur Verfügung stehenden personellen und sachlichen Mittel und das Gruppenbewußtsein (Teamgeist), das von den beteiligten Personen entwickelt oder nicht entwickelt wird.

Seit Jahrhunderten haben die Menschen (in Europa) darum gekämpft, ihre Ideen und Interessen nicht nur äußern (Meinungsfreiheit), sondern diese Ansichten auch verbreiten zu können (Pressefreiheit) und sich zum Zweck der Besprechung und Verfolgung von Zielen versammeln und zusammenschließen zu dürfen (Versammlungs- und Koalitionsfreiheit). Häufig werden in Österreich diese Freiheiten in Form von Vereinen wahrgenommen, deren Gründung und Gestaltung durch das Vereinsgesetz prinzipiell geregelt, aber (angenehm) wenig reglementiert wird, sodaß Spontaneität und Kreativität gute Chancen haben sich entwickeln zu können.

Die Formen und die Lebendigkeit der Vereine in Österreich sind nach verschiedenen Aspekten, so auch nach Bundesländern, unterschiedlich, und auch die Diversifizierung der Formen und Gestaltungen nimmt zu. In stadtnahen Gemeinden, zum Beispiel im Bundesland Salzburg, gibt es immer mehr und stärker differenzierte Vereine, in den großen Städten ist kaum mehr ein Überblick über die bestehenden Gruppierungen vorhanden, was manchmal den (falschen) Eindruck erweckt, daß Vereinigungen in großen Städten geringere praktische Bedeutung haben als in (kleinen) Gemeinden.

In Österreich gibt es nicht ganz 100.000 Vereine, die in ihrer geographischen Verteilung in etwa der Bevölkerungsverteilung entsprechen. Kärnten, Burgenland, Steiermark, Salzburg und Tirol haben (in dieser Reihenfolge) mehr Vereine als ihrem Bevölkerungsanteil entspricht, Oberösterreich, Wien, Niederösterreich und Vorarlberg haben weniger Vereine. Die größte Gruppe bilden die Sportvereine, gefolgt von Kulturvereinen und Sparvereinen, wobei die Verteilung auf Vereinstypen regional sehr unterschiedlich ist und besonders die Vereinsvielfalt bemerkenswert ist.

Ständig werden in Österreich neue Vereine gegründet (bis 6.000 jährlich) und auch wieder aufgelöst (bis 3.000), sodaß sich seit 1986 eine jährliche Nettozuwachsrate zwischen 900 (1986) und 3.378 (1990) ergab. Aber nicht nur die Anzahl der Vereine und ihre Schwerpunktverteilung verändert sich, auch die innere Dynamik in den Vereinen und in der ganzen Gesellschaft und ihren Teilbereichen ist unterschiedlich. Wenn es auch viele lokale und traditionelle Besonderheiten gibt, so lassen sich doch (längerfristige) Tendenzen bemerken, die ein Spiegelbild der gesamtgesellschaftlichen Veränderungen und insbesondere der gesellschaftlichen Werthaltung und Orientierungsmuster zeigen. War die Nachkriegszeit von einer starken religiösen Aufbruchsstimmung geprägt, die vor allem in sehr lebendigen Jugend- und Erwachsenenorganisationen konfessioneller Art ihren Ausdruck fand, so nehmen derzeit von Amerika ausgehende Service Clubs verschiedener Art in Österreich stark zu.

Vereinsgründungen in bestimmten Lebens- und Interessenbereichen nehmen zu und in anderen ab und zugleich gibt es auch viele informelle Vereinigungen, die sich (noch) nicht formell organisiert haben. Wichtig ist aber auch, daß viele traditionelle Vereinigungen den Bedingungen und Trends in der Gesellschaft Rechnung tragen, ihre Strukturen anpassen (zum Beispiel vermehrt auch Frauen aufnehmen) und so in geänderter angepaßter Form weiterexistieren.

Immer wieder wurde und wird versucht, Dachorganisationen bestimmter aufgabenorientierter Vereine auf Landes-, Bundes- und internationaler Ebene aufzubauen, aber in der Regel sind diese internationalen Verknüpfungen noch nicht sehr ausgeprägt und haben in das regelmäßige Vereinsleben noch wenig Eingang gefunden. In vielen europäischen Ländern wurden Vereine auch von aus dem Ausland stammenden Bewohnern gegründet, aber interkulturelle Vereine gibt es kaum, wenngleich bei manchen Vereinen (Sportvereinen, Musikkapellen, Sozialvereinen, Rotes Kreuz, Samariterbund etc.) die (nationale) Herkunft immer weniger Rolle spielt.

Die Vereine stellen also in gewisser Weise ein Spiegelbild der Gesellschaft dar, können demokratische Elemente weiter lebendig erhalten, auch wenn dies in der politischen Gesellschaftsgestaltung schwieriger geworden ist oder die Menschen eine gewisse Politikmüdigkeit zeigen. Gleichzeitig sind Vereine und ihre Unabhängigkeit, die durch ehrenamtliche Tätigkeiten der Vereinsmitglieder und ihrer Funktionäre garantiert werden, die entscheidenden Träger der Zivilgesellschaft, die in ihrer Bürgernähe und (relativen) Unabhängigkeit gegenüber Politik und Wirtschaft Freiräume für Eigeninitiative und Selbstgestaltung vor allem auf lokaler Ebene schaffen. Sie können helfen, gesellschaftliche Kräfte zum Wohl der Bewohner zu aktivieren und sinnvoll zu bündeln, sodaß gemeinsam Zukunftsweisendes geplant, erarbeitet und verwirklicht werden kann, manchmal im Schaffen von neuen Dingen und Haltungen, manchmal in kreativer Aneignung und Veränderung von Bestehendem und manchmal im Zurückdrängen von Trennendem und Entfaltungshemmendem.

Lebendige, zukunftsorientierte Gesellschaften brauchen kreative Menschen, die auf lokaler Ebene und in übernationaler Haltung die Zeichen der Zeit verstehen und entsprechend und konkret handeln.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Johannes Kepler Universität Linz und Leiter der Abteilung für Politik- und Entwicklungsforschung.

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