Verfassungsgerichtshof - © Foto: APA / Stanislav Kogiku

Christoph Konrath: Die Verfassung der Würde

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Oft wird gefordert, „Menschenwürde“ als Grundrecht zu verankern – auch zum Lebensschutz. Das deutsche Urteil geht in die andere Richtung. Doch was passiert generell, wenn Moral Rechtsform annimmt? Eine Analyse.

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Oft wird gefordert, „Menschenwürde“ als Grundrecht zu verankern – auch zum Lebensschutz. Das deutsche Urteil geht in die andere Richtung. Doch was passiert generell, wenn Moral Rechtsform annimmt? Eine Analyse.

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„Ein gegen die Autonomie gerichteter Lebensschutz widerspricht dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, in der die Würde des Menschen im Mittelpunkt der Werteordnung steht.“ Das ist der zentrale Satz im Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem es in Deutschland das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung aufgehoben hat. Eine wesentliche Grundlage der Entscheidung bildet somit Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Die Menschenwürde ist unter dem Eindruck des Nationalsozialismus in das Grundgesetz gekommen. Sie sollte einen letzten Maßstab bilden, an dem sich Staat und Recht messen lassen müssen, um Unrechtssysteme zu verhindern. Dieser sollte als Recht durchsetzbar sein. Auf den genauen Inhalt konnte man sich nicht einigen. Trotzdem (oder vielleicht deswegen) wurde Artikel 1 zum Vorbild für viele Verfassungen. Als Teil des Katalogs der Grundrechte macht er deutlich, dass die Entfaltung des Menschen in Staat und Gesellschaft das Grundgesetz prägen soll.

Skeptischer Blick auf soziale Rechte

In Österreich steht die Menschenwürde nicht in der Verfassung, aber es gibt seit Langem die Forderung danach – verbunden vor allem mit der Hoffnung auf mehr Lebensschutz auch und besonders am Lebensende. Zudem findet sie sich, wenngleich ohne Begründung, im letzten und im aktuellen Regierungsprogramm. Im Österreich-Konvent, der 2003-2005 über Verfassungsreformen beraten hat, bestand Konsens über ihre Verankerung in einem neuen Grundrechtskatalog. Dazu ist es nicht gekommen. Streitpunkt war neben dem Lebensende, was ein solches Recht im Leben bedeuten soll: Also, ob und welche Rechte auf Mindestversorgung, Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben usw. daraus folgen. Solche sozialen Rechte werden in der Politik seit Jahrzehnten skeptisch gesehen, selbst wenn Juristen klar ist, dass auch aus Freiheitsrechten Gewährleis­tungspflichten des Staates folgen.

In Deutschland wird Menschenwürde als umfassende Freiheit und Autonomie definiert. Aber auch damit wird eine bestimmte moralische Position eingenommen.

Wenn in Österreich die Menschenwürde nicht in der Verfassung steht, heißt das nicht, dass sie keine Bedeutung im Recht hat. Ganz im Gegenteil: Das Staatsgrundgesetz 1867 ist von der Aufklärung geprägt, die Menschenrechte als Konkretisierung der Menschenwürde sah. Dasselbe gilt für die Europäische Menschenrechtskonvention, die in Österreich Teil der Verfassung ist. Um diese Bedeutung zu erkennen, braucht es jedoch juristisches Wissen und das Können, auch mit jenen Meinungen umzugehen, die Grundrechte auf „verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte“ reduzieren und ihre geistigen Quellen austrocknen.

Juristen können die explizite Verankerung der Menschenwürde als überflüssig ansehen. Mit ihrer Aufnahme in den Verfassungstext wird aber die Hoffnung verbunden, einen verständlichen Maßstab zu schaffen, der vernünftige und gerechte Entscheidungen ermöglicht und schwierige Themen aus politischem Streit und Stimmungsmache herausholt. Dem wird, ebenso mit guten Gründen, entgegengehalten, dass gerade solche Fragen einer demokratischen Verständigung bedürfen, damit Antworten in einer pluralistischen Gesellschaft Akzeptanz finden.

Unterscheidung von Recht und Moral

Das ist das Dilemma, vor dem Höchstgerichte stehen. Im deutschen Fall ist es doppelt schwierig, weil 2015 eine solche Auseinandersetzung über die Frage des assistierten Suizids im Bundestag stattgefunden hat. Wenn aber einem Verfassungsgericht eine Rolle im demokratischen Gefüge zukommt, dann ist es möglich, dass jedes Gesetz geprüft und aufgehoben werden kann – unabhängig davon, wie gründlich die Debatte verlaufen ist. Es bedarf dann nur einer Person, die die gesamte Rechtsordnung in Bewegung setzen kann. Auch das ist Ausdruck und Sicherung der Menschenwürde.

Das führt zur zentralen Frage: Was passiert, wenn ein politisches oder moralisches Konzept Rechtsform annimmt? In Deutschland und noch mehr in Österreich dominiert dann (zumindest vordergründig) ein Verständnis, das auf die strikte Unterscheidung von Recht und Moral baut. In Deutschland, wo die Fachdebatten über Menschenwürde viel intensiver sind, ist jene Ansicht bestimmend geworden, die behauptet, frei von jedem spezifischen philosophischen oder theologischem Einfluss zu sein: Nach ihr sollen in einer pluralistischen Gesellschaft nicht partikulare Überzeugungen dominieren. Daher wird Menschenwürde als umfassende Freiheit und Autonomie definiert. Aber auch damit wird eine bestimmte moralische Position eingenommen. Und diese steht dem diametral entgegen, was sich jene wünschen, die Menschenwürde gern nach deutschem Vorbild in der Verfassung verankert sähen.

Ein selbstbezügliches System

Das Bundesverfassungsgericht hat im konkreten Fall Psychologen gehört, Einsamkeit und Hilflosigkeit im Alter debattiert und Statistiken studiert. Es muss sein Urteil aber ausschließlich mit rechtlichen Argumenten begründen. Der Verfassungstext gibt dafür keine eindeutige Linie vor. Daher nimmt das Gericht Bezug auf aus seiner Sicht passende Entscheidungen aus der Vergangenheit und die juristischen Debatten darüber (die sich gegenseitig beeinflussen).

Damit entsteht ein selbstbezügliches System, das sich von anderen Diskursen abkapselt. Dahinter steht der Gedanke, eine möglichst unabhängige Entscheidung sicherzustellen. Zugleich wirkt das in Politik und Gesellschaft zurück, weil Referenzstandpunkte geschaffen werden, die in einer pluralistischen Umwelt als neutral und objektiv wahrgenommen werden: In seiner Absolutheit kann der Schlüsselsatz der Entscheidung nicht hinterfragt werden. Was dabei verloren geht, ist die Möglichkeit eines kritischen Dialogs, in dem die Grundlagen und Bedingungen solcher Entscheidungen zur Debatte gestellt werden, in dem die Ansprüche an Neutralität geklärt werden und wo gefragt wird, wie ethische und moralische Fragen im Wechselspiel politischer und gerichtlicher Entscheidungen geklärt werden können.

Der Autor ist Jurist und engagiert sich für die Plattform www.unsereverfassung.at.

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