Die verlorene Unschuld

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Was sich hinter dem "Individualismus" verbirgt: unausgesprochener Gehorsam an das Diktat einer Gesellschaft, die sich frei wähnt.

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Was sich hinter dem "Individualismus" verbirgt: unausgesprochener Gehorsam an das Diktat einer Gesellschaft, die sich frei wähnt.

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Ich bin ein Kind der Gegenwart. Ich soll erfolgreich sein, mobil, flexibel. Mit einem festen Arbeitsplatz rechne ich nicht. Nicht einmal ein Weltbild habe ich, das fest wäre. Dabei dehnbar genug, den schnell wechselnden gesellschaftlichen Vorgaben ohne Gesichtsverlust zu folgen. Der Rückzug ins fragliche familiäre Glück gelingt nicht mehr, auch die Flucht in das Dasein eines jungen, dynamischen Workaholics nicht. "Ich" bin oft erforscht und beschrieben. Ich hätte die Wahl zwischen neuer Romantik mit Flucht ins Private, vorwurfsbeladenem Nullengagement oder grenzenlosem Konsumismus.

Für den Traum vom Model bin ich zu fett, für die Unterwerfung unter das Bild der modernen, dürren, freizügigen Frau, die durch Modemagazine und über Plakatwände geistert, zu bequem oder intelligent. Das Alternativprogramm der braven bürgerlichen Tochter ist trotz passender Geburt keine Alternative. Clubbingfetischist, Discogeher und Rapper bin ich keiner, sportlich auch nicht. Engagement wäre toll, doch Gruppen mag ich nicht. Damit bin ich endlich typisch.

Meine Generation soll individualistisch sein. Bei näherer Betrachtung stimmt das so wenig wie jede Verallgemeinerung. Die Parameter, die meine Gegenwart umreißen könnten, ändern sich zu rasch, um sie festzumachen. In atemberaubendem Tempo fordert das Jetzt Betroffenheit ein, die in solcher Schnelle glaubwürdig auf Knopfdruck nicht zu leisten ist. Nicht betroffen sein, ist eines der wenigen letzten Tabus. Wie authentisch kann Mitleid sein, das auf verschiedensten Ebenen ununterbrochen verlangt wird? Überall schreien mich Katastrophen an: kein Zeitungstitel ohne Kriegsbild, Lawinenkatastrophe, toten Falco, verunglückte Lady Di. Kein Palmersplakat ohne Inszenierung des Lustobjekts Frau, Augenweide für die Männlichkeit, angeblich emanzipiert.

Wie ehrlich ist eine Gesellschaft, die das flächendeckend schluckt? Undenkbar, sich als liberaler weiblicher Mensch an dieser Fleischbeschau zu stoßen. In jeder U-Bahnstation Aktivisten, die mich herzlosen Menschen darauf hinweisen, daß das Rind, das ich als Vegetarier nie esse, im Tier KZ sterben mußte. Auch ich bin schuld, als Milchtrinker. Wahrscheinlich trage ich Kleidung, die Frauen in Fabriken der Dritten Welt unter unwürdigen Bedingungen allmächtiger Weltkonzerne fertigten. Ich esse Milka und trinke Nestle Kaffee: jeder Kauf ein Stück Mitschuld am Unrecht der Globalisierung.

Selbst Spenden könnten Waffenhandel oder Diktatoren unterstützen. Geld bleibt Geld, kann mich nicht freikaufen vom schlechten Gewissen, das ich haben muß, weil ich auf der nördlichen Hemisphäre dieser Erdkugel geboren, relativ gesehen reich und damit aktives Mitglied eines Wirtschaftssystems bin, das ich durch vorselektierte Halbinformation nur zu einem Bruchteil verstehe. Ich ahne nur, es ist schlecht. Wem oder was traut meine Gegenwart ohne Unschuld, in der nichts ist, wie es scheint? Jede Erkenntnis hat eine Halbwertszeit, die meine Fähigkeit, zu begreifen, übersteigt.

"Ich bin ich und ich bin gegenwärtig", ist der einzige Satz, dem ich eventuell trauen könnte. "Ich" als letzte Rückzugsmöglichkeit, dessen reale Existenz sich noch durch einen Kniff in den Unterarm überprüfen läßt. Mißtrauen und Resignation als Kehrseite des egoistischen "Individualismus" mit dem genußorientierten Beigeschmack, Feindbild jedes fleißigen Vertreters der gemeinschaftsfreudigen Nachkriegsgeneration. Die Souveränität des Begriffs so labil wie die Gegenwart selbst.

Wie viel Spielraum bleibt dem Individuum, das nicht einmal an einem Ort, sondern immer mehrfach präsent und dennoch nicht greifbar ist? Am Computerbildschirm eine e-mail-Adresse. Manipulierend, wie alles andere rundherum. Eingepackt in die unausgesprochenen, umso besser verstandenen Codes von Grafik und Layout. Am Handy eine mail-box-Stimme mit Text. Entworfenes Image einer Person, die, in Fleisch und Blut betrachtet, hehre Enttäuschung oder durch Kleidung und Outfit verstärkte Entsprechung einer Erwartung ist. Je nach Professionalität oder finanziellen Mitteln helfen Experten beim Imagebau. Turmbau zu Babel an der Person.

Die "Ichs" unserer Zeit sind Produkte wie alles andere auch. Was sich hinter dem ,,Individualismus"' verbirgt: unausgesprochener Gehorsam an das Diktat einer Gesellschaft, die sich frei wähnt. Dabei strickt das Muster, das als Erfolgskonzept für mehr Wohlstand gedacht war, längst die Persönlichkeit.

Das Individualistenetikett wird meine Generation nicht los, den Vorwurf der Genußsucht durch moralische Altvordere auch nicht. Dann wenigstens Strategien zum echten Selbst entwickeln. Mit beiden Beinen gegenwärtig, sich eine Meinung bilden und unabhängig von Moden und Ablaufdaten gelassen als Person gegen Erwartungshaltungen agieren und reagieren. Gegen die Herrschaft der Pseudoindividualisten. Zu mehr fühle ich mich nicht gewachsen. Wenn schon nichts und niemandem zu trauen ist, dann wenigstens mir. Was soll ich sonst sagen, wenn die Zukünftigen fragen: "Wer seid ihr wirklich gewesen?"

Die Vierte Isabella Marboe, geboren 1970, Furche-Lesern bereits durch viele Beiträge bekannt, reichte ihren Text unter Pseudonym ein. Sie maturierte in St. Ursula in Wien-Mauer und schloß im Dezember 1998 ihr Architekturstudium an der TU Wien ab, hat sich aber nun dem Journalismus (Kultur, Religion) zugewandt: Ausbildung in der Katholischen Medienakademie, Mitarbeit bei "Dialog", "Wiener Kirchenzeitung" und Furche.

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