Werbung
Werbung
Werbung

Herrad Schenk, Tochter eines Nazi, führt Zeit- und Familiengeschichte zusammen.

Eine angesehene deutsche Schriftstellerin, Anfang 50, sitzt im Bundesarchiv in Berlin, dem ehemaligen US Document Center: mit klopfendem Herzen und feuchten Händen. Vor ihr die Personalakten ihres Vaters aus der Nazi-Zeit. "Ich musste tief durchatmen, bevor ich sie öffnete; es war die Angst, auf schreckliche, mir noch unbekannte Tatsachen zu stoßen. Er war seit mehr als drei Jahrzehnten tot, und der handgeschriebene Lebenslauf, der mir als Erstes ins Auge fiel, war mehr als sechs Jahrzehnte alt, doch wirkte er auf mich, als sei er gerade erst geschrieben, als sei mein Vater soeben noch in diesem Raum gewesen." Der Vater: Walter Schenk, SS-Hauptsturmführer, jahrelang im Osten stationiert als "SD-Mann". Der SD (Sicherheitsdienst), der Nachrichtendienst der Nationalsozialisten, ist noch immer von Mythen umrankt. Seine Mitarbeiter erfassten, analysierten und kategorisierten die Gegner des NS-Regimes. Die Verfolgung der Opposition, die schmutzige Arbeit also, lag in Händen der Gestapo.

Die Tochter, die das Leben des Vaters, seine Schuld und seinen Existenzkampf nach dem Krieg ohne Sentimentalität, aber auch nicht lieblos schildert, ist Herrad Schenk, bekannt als Roman- und Sachbuchautorin. "Ich schämte mich lange, die Tochter eines Nazi, eines SS-Führers zu sein, eine Tatsache, die man in Kreisen der 68-Generation besser verschwieg oder nur beiläufig, sich selber sogleich distanzierend, erwähnte ... Ganz gewiss aber durfte man solche Eltern nicht lieben." Herrad Schenk hat ihren Vater geliebt. War es nur das Werk ihrer Mutter, die gegenüber ihren fünf Töchtern diesen Mann idealisierte? "Oder soll ich sie nicht auch für ihre Treue bewundern, die sie ihm über den Tod hinaus hielt, indem sie die gemeinsame Geschichte bewahrte?"

In ihrem erschütternden Buch versucht Herrad Schenk, Zeitgeschichte und Familiengeschichte zusammenzuführen. Der Vater kann als junger Mann in der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre aus materieller Not sein Studium nicht beenden. In der aufkommenden NS-Ideologie findet er Halt und einen raschen beruflichen Aufstieg. Er ist 34 zu Kriegsende, hat eine Frau und kleine Kinder zu versorgen - doch entkommt er seiner Vergangenheit nicht. Worin diese bestand, enthüllt Herrad Schenk mit großer Sachkenntnis und Behutsamkeit. Ihr Vater wurde zwischen 1961 und 1966 insgesamt 16-mal vor Gericht geladen. Kein Mord, keine Verletzung von Menschenrechten wurden ihm nachgewiesen. Aber ein Mann, der in Lemberg und Krakau stationiert war und von sich behauptete, "dienstlich" nichts von den Judenverfolgungen gewusst zu haben, wie glaubwürdig war dieser Mann?

Breiten Raum nimmt das Leben der Mutter ein, einer vitalen, mutigen, tapferen Frau, die ein glückliches Naturell besaß - oder war sie nur eine Meister-Verdrängerin? Beide Eltern hatten schriftstellerische Neigungen und schrieben einander in Jahren der Trennung viele Briefe. Außerdem führte die Mutter eine Familienchronik. Herrad Schenk konnte für das letzte Wegstück ihres Vaters auf ihre eigenen Tagebücher zurückgreifen. Die Geschichte einer kinderreichen deutschen Familie wird erzählt vor dem Hintergrund zunächst des Krieges, dann der materiell und geistig schwierigen Nachkriegszeit. Obwohl es sich um die eigene Familie der Autorin handelt, der erst allmählich bewusst wird, was für ein Schatten auf ihren Vater fällt, gelingt ihr Außen- und Innendarstellung auf sachliche und zugleich dramatisch bewegende Art. Packend, ergreifend bis zum letzten Satz: "So etwas wie die Wahrheit über ein Leben kann es nicht geben."

Wie in einem uferlosen Strom

Das Leben meiner Eltern

Von Herrad Schenk

C. H. Beck Verlag, München 2002

368 Seiten, geb., e 20,50

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung