Die Wahrheit wird gebastelt

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Wie heute Musikstücke aus verschiedenen Elementen zusammengemischt "gesampelt" - werden, so tun dies Jugendliche auch mit den (religiösen) Wahrheiten.

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Wie heute Musikstücke aus verschiedenen Elementen zusammengemischt "gesampelt" - werden, so tun dies Jugendliche auch mit den (religiösen) Wahrheiten.

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Welche Empörung bei meiner amerikanischen Schulfreundin, als ihr kleiner Bruder in der österreichischen Schule als Heide bezeichnet wurde! Weil er Baptist war, werde er - so seine Lehrerin - einst lange im Fegefeuer schmoren müssen. Welch stundenlange Streitgespräche, die wir mit unserem Religionslehrer führten, welche Kontroversen über Glaube im allgemeinen und die katholische Kirche im besonderen!

Für meine Mitschülerinnen und mich, sogenannte Baby-Boomer der beginnenden Wohlstandsgesellschaft, war die institutionell verfaßte, etablierte Form von Religion selbstverständlich. Glaube und Religion waren für uns immer rückgebunden an religiöse Gemeinschaften, individuelle Religiosität lebten wir mit dem Slogan "Jesus ja - Kirche nein", faszinierend, aber nicht überzeugend waren für uns fernöstliche Religionen. Spielerisch oder auch ernsthaft konnte der Begriff "heidnisch" zur Abgrenzung nach außen und Stärkung nach innen benutzt werden. Können wir heute mit ihm die Religiosität der Jugendlichen bezeichnen?

Die Suche nach der "religiösen Aura" Der religiöse Wandel der letzten Jahrzehnte ist davon geprägt, daß die Kirchen kein Monopol mehr für Religion haben und sich dadurch auch die Grenzen des Religiösen aufgelöst haben. Aus der Sicht heutiger Jugendlicher gewinnen Anbieter alternativer symbolischer Sinnwelten immer mehr an Glaubwürdigkeit. Diese Anbieter verfolgen zwar nicht immer schon religiöse Interessen, können aber dennoch mit den primären religiösen Institutionen konkurrieren.

"Die Suche nach der religiösen Aura" erfolgt immer weniger bei institutionell verfassten Religionen, auch nicht, wie etwa in den siebziger Jahren, bei fernöstlichen, sondern schlicht an anderen Orten. Musik, Medienkonsum, die überidealisierte Zweierbeziehung, Selbsterlösungsversuche, diverse Glückspraktiken, Selbstherausforderung (sei es im Extremsport oder im Körperkult) sind Begriffe, mit denen die (religiösen) Suchbewegungen - gerade der jungen Menschen - beschrieben werden können. All das kann religiöse Funktion übernehmen: Es dient der Identitätsstiftung, der Kontingenzbewältigung, also dem breiten Bereich dessen, was der letzten Verfügung des Menschen entzogen ist, es löst intensive Gefühle aus und wird sogar heiliggesprochen, indem man darin Sinn spürt und Wahrheit erlebt. Ihr gemeinsames Kennzeichen ist, daß jede und jeder die Intensität dieses religiösen Suchens individuell bestimmen kann.

Jugendliche suchen besonders außeralltägliche Erfahrungen, sogenannte "große Transzendenzen" (so der Religionssoziologe Thomas Luckmann) und finden diese sowohl in ihren Jugendszenen, als auch bei Anbietern alternativer symbolischer Sinnwelten. Diese haben für sie eine hohe "Credibility". Credibility meint mehr als persönliche Glaubwürdigkeit, sie ist die stimmige Kombination von Authentizität, Mythos, Corporate Identity, Sozialverträglichkeit und Faszination.

So können heute Trance, Ekstase und Befreiung vom Alltag auch bei einem Techno-Rave (= Veranstaltungen der "Party-People", in denen die ganze Nacht zu einer mit digitaler Technologie gefertigten Maschinenmusik getanzt wird) erlebt werden. Deutschlands erfolgreichster DJ und "Philosoph" des Techno, Maximilian Lenz alias Westbam, sagt: "Man kann nur für Momente im Leben erlöst werden. Ekstase der Befreiung. Auslöschung der Alltagszeichen. Als Akt der Klarheit, nicht als Stumpfsinn. Das schlechte Leben ist für einen Moment überwunden, auch wenn es dann leider wieder zurückkehrt."

Temporäre Erlösung durch Techno. Befreiung durch Musik. Die ravende Gesellschaft erlöst sich selbst.

Außeralltägliche Erfahrungen werden auch im Sport gesucht. Nicht nur im "Kick", dem Erlebnis durch Überraschung (Beispiel: Bungee-Jumping), sondern auch im "Flow", dem Erlebnis, das aus dem Können heraus entsteht (Beispiel: Snowboarden). Hier ist nicht der pure Adrenalin-Kick entscheidend, sondern - indem eigenes Können mit den gegebenen Anforderungen in Übereinstimmung gebracht wird - das Feeling des Schwebens, des Wohlgefühls, der Trance.

Religionssampling - Religionsbricolage Anders als meine Generation wählen heutige Jugendliche in Sachen Religion lieber aus, statt ein verbindliches Modell zu übernehmen. Die Folge ist eine besonders ausgeprägte Individualisierung der Erfahrung des Religiösen und das Basteln an der eigenen individuell-biographisch bestimmten Religion. Aus dem heute unüberschaubaren Spektrum an Wahrheiten und Definitionen werden einzelne Elemente herausgebrochen und zu einer persönlichen Wahrheit, einer im hohen Ausmaß vorübergehenden und situativen Wahrheit, zusammengesetzt. Wie ihre Musik können Jugendliche auch Wahrheiten "sampeln".

Das heißt: Wie heute Musikelemente aus den verschiedensten bereits vorhandenen Musikströmungen zusammengemischt - eben gesampelt - werden, so geschieht dies auch mit Wahrheiten. Bernhard Heinzlmaier vom Österreichischen Institut für Jugendforschung (ÖIJ) zur Sample-Mentalität: "Sie basteln zusammen, nehmen wieder auseinander, kombinieren neu, scheiden einzelne Elemente aus, fügen neue hinzu. Und kommen zu keinem Ende. Alles ist in bleibender Unabgeschlossenheit gefangen, alles bleibt Experiment."

Dieses Basteln beziehungsweise Sampeln wird besonders bei zwei religiösen (jugendlichen) Stilen deutlich, dem oppositionellen und dem selbstreferentiellen Religiositätsstil.

Im "oppositionellen Religiositätsstil" greifen Jugendlichen religiöse Symbole auf, um gegen die Welt der Erwachsenen zu protestieren oder um sich selbst zu stilisieren. Sie nutzen die religiöse Symboltradition, um provokativ und protestierend den modernen Alltag zu durchbrechen, den sie als frei von allen transzendenten Bezügen erleben. Aus ihren jugendkulturellen Lebenszusammenhängen heraus entstehen Affinitäten zum Okkulten, zur schwarzen Gegenreligion, insbesondere zur Thematisierung des Bösen und des ausgeblendeten Todes.

Sie protestieren mit Hilfe der Tabus der "schönen, heilen Welt" der Erwachsenen: dem Tod, dem Bösen, dem Negativen und dem Häßlichen. Die Grenzsituation des Todes und eine daran geknüpfte Todesmystik gehört zum Standardrepertoire verschiedener jugendkultureller Stile und Szenen. Religiöse und okkulte Haltungen werden nicht "fertig" übernommen, sondern Jugendliche stellen in der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Traditionen ihre "eigene Religion" zusammen.

Als eine meiner Studentinnen einen sich als Satanisten bezeichnenden sechzehnjährigen Schüler nach seiner religiösen Überzeugung fragte, meinte dieser: "Tu was du willst und nimm auf die anderen Rücksicht." Aleister Crowley, Stammvater des modernen Satanismus und Verfasser der Maxime: "Tu was du willst, sei das ganze Gesetz", rotiert vermutlich im Grab.

Religion wird auf neue Weise von Jugendlichen auch dort in Anspruch genommen, wo es um einen gesteigerten Selbstbezug geht. Es geht darum, das durchschnittliche Alltags-Ich zu durchbrechen. Im "selbstreferentiellen Religiositätsstil" ist Subjektivität heilig. Jugendliche greifen auf religiöse Ausdrucksformen zurück, um - im Gegenentwurf zur westlichen Kultur der Weltbeherrschung - einen "Kultus des (narzißtischen) Subjekts" zu inszenieren, wie dies der Pädagoge Jörg Zinnecker treffend formulierte.

Sie leben in dem Bewußtsein, daß jeder seine Religion basteln muß und experimentieren mit dem religiösen Material, das ihnen angeboten wird. Die formelle christliche Symbolwelt gilt hier als Gegenhorizont der eigenen unabgeschlossenen Sinnsuche. Fremde, insbesondere fernöstliche Lebens- und Glaubenstraditionen sind ein attraktiver Fundus an religiösen Ausdrucksmitteln.

Natürlich gibt es auch Jugendliche, die in kirchlichen Formen der Religionspraxis zu Hause sind. Doch auch sie orientieren sich oft nicht umfassend am Christentum. Auch sie wählen bei Glaubensinhalten aus. Auch bei ihnen gibt es eine deutliche Diskrepanz zwischen Kirchenzugehörigkeit und religiöser Überzeugung und Praxis.

Auf der Suche nach "Credibility" Welche Jugendlichen sind nun heidnisch? Helfen uns hier klare Antworten?

Ich halte es für sinnvoller, darüber nachzudenken, * warum die religiösen Suchbewegungen Jugendlicher heute häufiger außerhalb als innerhalb unserer Kirchen stattfinden; * warum für Jugendliche so selten christliche Gemeinden eine ähnliche Credibility haben wie viele Jugendszenen; * warum Jugendliche (wie auch viele Erwachsene) den Versprechungen des Marktes eher Glauben schenken als den Verheißungen des Evangeliums.

Unverdrossen wünsche ich mir, daß sie auch bei uns erfahren, jemand zu sein und anerkannt und wiedererkannt zu werden. Unverdrossen hoffe ich, daß sie in der Begegnung mit Christinnen und Christen die Credibility unseres Glaubens entdecken können.

Die Autorin ist Professorin für Religionspädagogik und Katechetik an der Theologischen Hochschule Linz.

BUCHTIPS Die Suche nach der religiösen Aura. Analysen zum Verhältnis von Jugend und Religion in Europa. Hg. von Christian Friesl und Regina Polak. Verlag Zeitpunkt, Graz 1999, 303 Seiten, kt., öS 289,-/e 21,00 Ich habe meine eigene Religion. Sinnsuche jenseits der Kirchen. Hg. von Hermann Kochanek. Verlag Benziger, Zürich 1999, 256 Seiten, kt., öS 291,-/e 21,15 Religionsstile Jugendlicher und moderne Lebenswelt. Von Werner Tzscheetzsch und Hans G. Ziebertz. Don Bosco Verlag, München 1997, 274 Seiten, kt., öS 263,-/e 19,11 Nächste Woche lesen Sie im Dossier: Alternativenergie - eine reine Utopie?

* Entwicklung des Verbrauchs fossiler Energie * Perspektiven von Biomasse, Solarenergie, Windenergie * EU-Politik: Gibt sie Alternativenergien Chancen?

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