Die Waisen der Rosenkrieger

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Der spektakuläre "Fall Christian" ist kein Unikat: Auch am Beispiel der sechsjährigen Sophie S. aus Wien zeigt sich, wie leicht Richter und Sachverständige bei Scheidungen hinsichtlich des Kindeswohls versagen können.

Wenn Alfred S. an den "Fall Christian" denkt, überkommt ihn Wut - "Wut darüber, wie hier mit einem Kind umgegangen wird". Er weiß, dass die Medien im Fall des achtjährigen Scheidungskindes aus Salzburg eine unsägliche Rolle spielten. Doch er weiß auch, dass die Gerichte - wenn es erst zum Rosenkrieg gekommen ist - oft auf das Kindeswohl vergessen. Schließlich hat er ein ähnliches Drama am eigenen Leib erlebt.

Seit Jahren ringt der 44-jährige Wiener Orthopäde mit seiner mittlerweile geschiedenen Frau Melanie um das Sorgerecht für die heute sechsjährige Tochter Sophie. Bereits zwei Monate nach der Geburt des Mädchens im August 1997 kommt es zu ersten Gewalthandlungen der Mutter. Schließlich entzieht der zuständige Richter Melanie S. die Obsorge und überträgt sie dem Vater: Ein Psychiater bestätigt in einem Gutachten ihre "persönlichkeits-immanente Aggressivität".

Mit Kameras zum Gericht

Wenige Monate später bestellt der Richter bei einer Psychologin ein weiteres Gutachten, das "wegen Geschlechtsidentität" den Obsorgewechsel zur Kindesmutter "unter Therapieauflage" empfiehlt. Melanie S. versucht, begleitet von ORF-Kameras, die Entscheidung des Richters zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Die Strategie geht auf: Schon einen Tag später erteilt das Gericht der Mutter die Obsorge - und bleibt dabei, obwohl zwei Wochen später ein weiteres Gutachten die Rückkehr des Mädchens zum Vater empfiehlt. "Hier hat sich das Gericht dem Mediendruck gebeugt", empört sich Alfred S.

Das Drama nimmt seinen Lauf: Der Orthopäde muss mitansehen, wie seine Tochter Sophie, die an einem ausgeprägten Knick-Senk-Fuß leidet, "mit Ballerina-Patscherln" herumläuft. "Mittlerweile hat Sophie so verformte Füße, dass sie nur unter Schmerzen gehen kann", bestätigt die Kinderärztin Beatrix Blaha-Hausner, die den Fall seit drei Jahren verfolgt. Zu den körperlichen Schäden komme laut Blaha-Hausner psychische Gewalt, die von der Mutter - "deren Therapieauflage das Gericht nie kontrolliert hat" - auf ihre Tochter ausgeübt werde. "Sophie hat sich nach dem Besuch des Vaters immer geweigert, zur Mutter zurückzukehren", erinnert sich Blaha-Hausner, die im Zentrum für Entwicklungsförderung auch Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten behandelt. "Sophie hatte regelrecht Angst vor ihrer Mutter. Sie musste das Mädchen mit Gewalt vom Vater loszureißen." Im Oktober 2002 kommt es schließlich zur Eskalation: Der Richter beauftragt einen Gerichtsvollzieher, Sophie, die nach einem Besuch beim Vater geblieben ist, zur Mutter zurückzubringen - wenn nötig mit Gewalt. In der Folge verweigert Melanie S. ihrem Ex-Mann fünf Monate lang jedes Besuchsrecht.

Trotz dieser dramatischen Entwicklungen dreht sich das folgenlose Gutachten-Karussell weiter - bis zum heutigen Tag.

"Die Gerichte beschließen oft Auflagen und kümmern sich nicht, ob sie eingehalten werden", ärgert sich Alfred S. Auch Karl Garnitschnig, der als therapeutischer Leiter des Wiener Instituts für Kommunikationspädagogik seit einigen Jahren mit dem Fall Sophie vertraut ist, zeigt sich im Furche-Gespräch empört: "Hier wurde das Kind dem psychisch instabilen Elternteil gegeben."

Zweifellos handle es sich hierbei nicht um einen "normalen Scheidungsfall", ist er sich bewusst: Den meisten der österreichweit 13.539 unter 14-Jährigen, die Jahr für Jahr von den Scheidungen ihrer Eltern betroffen sind, bleibe ein solches Martyrium erspart.

Untaugliche Tests

Dennoch würden im Fall Sophie exemplarisch die größten Probleme bei Obsorgestreitigkeiten zu Tage treten: "Die Misere fängt schon bei den psychologischen Gutachten an", meint Garnitschnig, auch Professor am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Wien und Vorsitzender der österreichischen Liga für Menschenrechte für Kinder und Jugendliche. "Oft wird dabei der Rorschach-Test verwendet, der genau für diese Fälle nicht verwendet werden soll." Bei diesem Test sollen Tintenkleckse interpretiert werden. "Das ist leicht zu durchschauen", glaubt Garnitschnig. Auch die einstündigen Befragungen der Kinder seien höchst fragwürdig. "Viel aussagekräftiger ist eine Beobachtung in realen Spielsituationen - ohne die Eltern", meint der Psychotherapeut.

Ist das Gutachten einmal fertiggestellt, lauert laut Garnitschnig schon das nächste Grundproblem: "Familienrichter sind in der Regel nicht in der Lage, ein psychologisches Gutachten zu lesen." Umso wichtiger sei es, die Rechtshüter entsprechend auszubilden. Ein Wunsch, der dem Wiener Kinderpsychiater Max Friedrich schon lange Zeit ein Anliegen ist. "Familienrichter müssten eine entwicklungspsychologische Ausbildung bekommen", fordert er - und bestätigt auch den Missstand, dass bei entsprechenden Anstrengungen eines Elternteils die Zeit bis zum Abschluss eines Gutachtens nahezu beliebig lang hinausgezögert werden könne.

Um vermehrt das Wohl des Kindes in den Blickpunkt zu rücken, fordert der Psychiater die Einsetzung von Kinderanwälten - "zumindest in jenen Fällen, wo der Richter ein Gutachten anfordert. Denn das ist ein Zeichen dafür, dass es Probleme gibt." Davon abgesehen müsse der Wunsch der Kinder vor Gericht stärker berücksichtigt werden, meint Friedrich, der im März ein neues Buch über "Die Opfer der Rosenkriege" (Verlag Ueberreuter) veröffentlichen wird: "Ab sechs Jahren hat es einen Sinn, mit dem Kind konkret über seine Wünsche zu sprechen, wobei man kindgerecht mit ihm arbeiten muss."

Ab zehn Jahren muss ein Kind laut Kindschaftsrechtsänderungsgesetz von 2001 vor Gericht angehört werden; ab 14 Jahren darf es selbst bestimmen, bei welchem Elternteil es wohnen möchte. Auch wenn die Obsorge nun laut Gesetz grundsätzlich bei beiden Eltern bleibt, so muss doch geklärt werden, wo das Kind überwiegend leben wird - und wie die Besuche des anderen Elternteils zu regeln sind.

Vaterlose Scheidungskinder

Spätestens in dieser Frage kommt es oft zum Konflikt. Glaubt man dem Bremer Soziologen Gerhard Amendt (siehe unten), dann verliert immerhin ein Viertel aller Scheidungskinder innerhalb des ersten Jahres den Vater. "Es ist sehr schwer, ein Besuchsrecht durchzusetzen, wenn die Eltern nicht bereit sind, mitzuwirken", bestätigt Josef Schweighofer, Familienrichter am Wiener Bezirksgericht Fünfhaus. "Ein Kind mit Zwangsmaßnahmen zum anderen Elternteil zu transportieren, ist ja problematisch."

Dass dies für das Kind selbst - wie bei Sophie S. - traumatisch erlebt wird, ist unter Experten unbestritten. Umso mehr hofft Alfred S., dass die Richter in Hinkunft ihren Fokus nicht nur auf die beiden Streitparteien lenken, sondern auch auf die unschuldigen Dritten: "Den Kindern müsste man einen Anwalt geben", wünscht sich der Scheidungsvater. "Sie müssten im Zentrum des Interesses stehen - nicht der Geschlechterkampf."

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