Die Weisheit der digitalen Masse

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INTERNET • Menschliches Verhalten im World Wide Web wird gern als "Schwarmintelligenz“ bezeichnet. Doch wie klug oder sozial sind die Dynamiken im Netz tatsächlich?

Wenn Stechmakrelen sich in riesigen Schwärmen formieren, so tun sie dies, um Feinde abzuwehren. Ein durchaus intelligentes Verhalten also, das ein Fotograf des Magazins Geo kürzlich in eindrucksvollen Bildern festgehalten hat. Diese "Schwarmintelligenz“ wird immer öfter auch jenen Menschen beschieden, die sich in den Weiten des Internets tummeln: Wie Fische im Meer, so gruppieren auch sie sich ohne Führer, doch dafür mit einer Vielzahl unterschiedlicher Stimmen.

Im Idealfall ist das Internet also ein partizipatorisches und demokratisches Projekt. Der "Arabische Frühling“, in dem soziale Medien eine führende Rolle gespielt haben, gilt als Musterbeispiel für diese "Weisheit der Masse“. Durch Blogger und Twitterer, deren Berichte oft einen schnelleren, exklusiveren Blick auf bestimmte Ereignisse ermöglichen, werden zudem "klassische“ Medien auf den Prüfstand gestellt - und gezwungen, sorgfältiger zu recherchieren.

Intelligenzfreie "Shitstorms“?

Oft genug formieren sich die Schwärme im Internet aber nicht im Dienst der guten Sache. "Shitstorm“ nennt sich jene Zusammenrottung, bei der einer zu lästern beginnt - und damit in der Twitter- oder Facebook-Timeline einen Schmähungssturm provoziert. Ist also die Rede von der virtuellen Schwarmintelligenz tatsächlich angebracht - oder muss man nicht eher von Schwarmbosheit oder gar -dummheit sprechen?

Eine Gruppe um Sinan Aral vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) hat sich erstere Frage gestellt - und dazu mit einer Nachrichtenwebsite kooperiert, auf der man die Kommentare der User positiv wie negativ bewerten kann. Mehr als 100.000 Postings wurden zufällig ausgewählt und ihre Bewertungen manipuliert: ein Teil positiv, ein anderer negativ, ein dritter gar nicht. Das Ergebnis war ein (überraschender) Schneeballeffekt: Waren Postings positiv bewertet worden, so wurden sie um 30 Prozent häufiger ebenfalls positiv bewertet als jene, bei denen keine Bewertung vorlag. Bei den negativ manipulierten Bewertungen hingegen wurde ein Ausgleichseffekt festgestellt: Die User waren neutral oder korrigierten die schlechte Note sogar.

Wie schnell Schwarmintelligenz in kollektive Verdummung umschlagen kann, hat wiederum ein Forscherteam um Dirk Helbing von der ETH Zürich gezeigt: Die Forscher stellten 144 Studierenden sechs verschiedene Fragen, wobei ein Teil der Probanden nach der ersten eigenen Schätzung den Mittelwert aller anderen Teilnehmer erfuhr. Ein anderer Teil erhielt sogar die konkreten Schätzwerte der anderen. Nach fünf Wiederholungen zeigte sich, dass die zuerst gegebenen Antworten im Durchschnitt die besten waren. Der menschliche "Herdentrieb“ mit dem Hang zum Konsens führt demnach oft zu schlechten Ergebnissen - wie die Finanzkrise eindrucksvoll bewiesen hat. Wenn Menschen hingegen (wie in der repräsentativen Demokratie) unabhängig voneinander entscheiden könnten, würde sich nach Helbing die kollektive Weisheit am besten entfalten.

Im Schwarm besser durchs Leben

Für Peter Wippermann, Hamburger Trendforscher und Autor des 2012 erschienenen Buches "Leben im Schwarm. Die Spielregeln der Netzwerkökonomie“, ist der Schwarm dessen ungeachtet eine "Organisationsform, die einem Zusammenschluss von Lebewesen hilft, besser durchs Leben zu kommen“, wie er gegenüber der deutschen Welt erklärte. Trotz aller Einwände werde die Schwarmintelligenz "zu einem offeneren Umgang“ beitragen, von dem alle auf Dauer profitieren - egal ob in Politik, Wirtschaft oder Medien.

Etwas zurückhaltender zeigt sich der deutsche Blogger Sascha Lobo. Für ihn ist "der digital vernetzte Schwarm die größte Projektionsfläche der Netzzeit“, wie er auf Spiegel Online schreibt. Schwarmintelligenz sei keine Intelligenz im gewöhnlichen Sinn, sondern beschreibe einfach "das ergebnisorientierte Zusammenspiel einer Gruppe. Das kann neue und ungesehene Qualitäten entwickeln. Aber es muss nicht - und es braucht eine geeignete Koordination von Einzelleistung und Gruppenverhalten“.

Das menschliche Verhalten im Internet bleibt also ambivalent und widersprüchlich. Fast wie im realen Leben.

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