"Die Wissenschaft ist hier leider einseitig"

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Der Psychoanalytiker Ludwig Janus gilt als Pionier der Pränatalpsychologie. Im FURCHE-Interview spricht er über die Auswirkungen (vor-)geburtlicher Erfahrungen auf die Lebensgeschichte, "patriarchale" Geburtshelfer und die Psychologie des Kaiserschnitts.

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Der Psychoanalytiker Ludwig Janus gilt als Pionier der Pränatalpsychologie. Im FURCHE-Interview spricht er über die Auswirkungen (vor-)geburtlicher Erfahrungen auf die Lebensgeschichte, "patriarchale" Geburtshelfer und die Psychologie des Kaiserschnitts.

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Menschsein mit all seinen Empfindungen beginnt lange vor der Geburt: Dies ist die zentrale These der Pränatalpsychologie, deren prominentester deutscher Vertreter der Psychoanalytiker Ludwig Janus ist. Sein Buch "Wie die Seele entsteht" gilt als Standardwerk dieser Disziplin -für die es freilich hierzulande keinen Lehrstuhl gibt. Dass Janus' Thesen nicht unumstritten sind, zeigte vergangenen Montag auch der (von Wissenschaftsministerium und FURCHE veranstaltete) "Science Talk", bei dem Janus mit dem Gynäkologen Peter Husslein, der Frauenärztin und Psychosomatikerin Barbara Maier sowie dem Evolutionsbiologen Philipp Mitteröcker diskutierte.

Die Furche: Herr Janus, Sie gehen davon aus, dass vorgeburtliche und geburtliche Belastungen im späteren Leben weiterwirken. Wie kann man sich das vorstellen?

Ludwig Janus: In der Psychoanalyse-Ausbildung wird man dazu angeleitet, diese Prägungen erst mit der Geburt beginnen zu lassen -oder bei Freud erst mit drei oder vier Jahren. Aber mir ist unter anderem nach der Beschäftigung mit Otto Rank (österr. Psychoanalytiker, Anm.) klar geworden, dass prägende Erfahrungen während der Schwangerschaft und Geburt zum Leben dazugehören. Anschaulich sind hier natürlich die krassen Beispiele. Wenn jemand einen Abtreibungsversuch überlebt hat, dann hat ihn diese mörderische Erfahrung in tiefer Weise mit der Möglichkeit konfrontiert, dass es ihn besser nicht gäbe. Oder wenn jemand bei der Geburt eine Nabelschnurverschlingung hatte, kann sich das später darin zeigen, dass er oft keine Luft bekommt. Das kann man eruieren und dann therapeutisch auflösen. Es braucht jedenfalls diese Erweiterung: Das Leben beginnt ja mit der Zeugung, nicht mit der Geburt.

Die Furche: Das Problem dabei ist, dass sich der Betroffene an pränatale Erlebnisse nicht erinnern kann. Wie kann man sie überhaupt rekonstruieren? Janus: Indem man etwa die Mutter, eine Tante oder ältere Geschwister fragt. Dass wir nicht nur als bloßer Körper, sondern mit unserer gesamten inneren Steuerung zur Welt kommen, ist jedenfalls empirisch umfassend belegt, etwa durch die Stressforschung: Wenn man Rattenweibchen mit Elektroschocks ärgert, kommen ihre Kinder verwirrt auf die Welt, das gesamte Finetuning wird pränatal programmiert. Auch die Hirnforschung zeigt, dass es pränatale Bedingungen dafür gibt, wie sich die Synapsen verbinden. Nicht zuletzt die Epigenetik hat gezeigt, dass es pränatale Bedingungen dafür gibt, welche Gene an-und abgeschaltet werden -und dass das über die Generationen weitergegeben wird.

Die Furche: Wie erklären Sie sich dann die wissenschaftliche Skepsis an der Pränatalpsychologie? Methodisch besteht ja das Problem, dass kein "direkter" Zugang zum Embryo oder Fötus besteht Janus: Das Problem ist, dass wir immer noch in den Nachwehen patriarchaler Orientierung leben - und deshalb viele Forscher sagen, dass die weibliche Dimension nicht wichtig sei. Aber die Hälfte aller Lebensdinge sind emotional - und auch real. Doch die Wissenschaft ist leider ziemlich einseitig: Wenn es zur Geburtsangst nicht tausend Doppelblindstudien gibt, dann gibt es sie für sie nicht. Die tausenden psychotherapeutischen Beobachtungen sind im akademischen Milieu irrelevant. Die Furche: Kommen wir zu einem konkreten Thema, das in der Pränatalpsychologie eine zentrale Rolle spielt und dem Kind offenbar schadet: zu viel Stress. Aber kann nicht auch die Warnung vor zu viel Stress die Frauen stressen?

Janus: Ja, aber hier trägt ja nicht die Frau allein die Verantwortung, sondern auch die Paarbeziehung und das familiäre und gesellschaftliche Umfeld. All das wirkt darauf ein, wie der Kontakt der Mutter zu ihrem Kind aussieht. Wenn hier eine Resonanz da ist, dann ist eine stressige Steuererklärung kein Problem. Deshalb gibt es auch Kurse, die diese vorgeburtliche Mutter-Kind-Beziehung fördern (s. u.). Aber klar ist, dass das Ungeborene in der Gefühlswelt der Mutter mitlebt und Stresshormone plazentagängig sind. Wenn sich eine Frau umbringen will oder von ihrem Mann geschlagen wird, bekommt das Kind diese katastrophische Steuerung mit. Schwangerschaft und Geburt sind eben der Urgrund unseres Lebens, und die Geburt ist unsere erste Heldenfahrt.

Die Furche: Apropos: Sie kritisieren die Zunahme "geplanter Kaiserschnitte", die medizinisch nicht unbedingt notwendig sind. Warum?

Janus: Grundsätzlich ist der Kaiserschnitt natürlich eine Errungenschaft. Man darf nicht vergessen, dass früher jede sechste Geburt tödlich war. Aber die aktuelle Geburtshilfe hat mit ihren frühen Interventionen auch die Tendenz, Frauen in ihren Geburtskräften zu schwächen. Außerdem ist es von elementarer psychologischer Bedeutung, wie wir zur Welt kommen. Eine normale Geburt bedeutet für Mutter und Kind, dass man sich anstrengen muss, um ans Ziel zu gelangen. Diese Elementarerfahrung fehlt Kaiserschnittgeborenen. Das muss sich nicht bei jedem äußern, aber ich hatte einen jungen Mann, der sich auf sein Examen vorbereitet hat - und plötzlich gar nichts mehr tun und nur noch darauf warten konnte, dass ihm geholfen wurde. In der Therapie haben wir dann festgestellt, dass eine Kaiserschnittgeburt dahinter steckt. Hier können relativ geringe therapeutische Eingriffe große Wirkung entfalten. Die Furche: Ein letztes Thema, das Schwangerschaften immer stärker prägt, ist die Pränataldiagnostik. Welche Position haben Sie zu ihr?

Janus: Auch sie ist grundsätzlich hilfreich, sollte aber sparsam und behutsam durchgeführt werden, weil ein Ultraschall auch eine erhebliche Stresserfahrung sein kann. Wir bräuchten jedenfalls in der Schwangerenbegleitung und Geburtshilfe insgesamt mehr Zusammenarbeit zwischen Pränatalpsychologen, Hebammen und Geburtshelfern. Viele lernen nur ihre Technik, aber dazwischen ist der lebendige Mensch.

Pränatalpsychologen, Hebammen und Geburtshelfer sollten mehr zusammenarbeiten. Viele lernen nur ihre Technik, aber dazwischen ist der lebendige Mensch.

L. Janus

Der 1939 geb. Arzt und Psychoanalytiker betreibt seit 1975 eine Praxis in Heidelberg. Derzeit ist er Gastprofessor an der St. Elizabeth Universität Bratislava.

TIPP zur Mutter-Kind-Beziehung "Aktion Leben" bietet gemeinsam mit dem Familienministerium eine Ausbildung in "Bindungsanalyse" an, durch die die vorgeburtliche Mutter-Kind-Beziehung gefördert wird. (www.aktionleben .at, www.bindungsanalyse.at)

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