Die Wunderkammer der Möglichkeiten

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Megacities sind nicht mehr am Reißbrett planbar. Sie verlangen neue Kreativität von Architekten und Bürgern. Selbst in einem Slum in Kairo kann Gutes gelingen. Ein Plädoyer.

Manch einer fürchtet die Städte der Zukunft und die Megastädte der Gegenwart: Molochartig, maßlos wuchernd können sie wirken, alle Urängste nähren, die in unserem kollektiven Unbewussten hausen. Ängste werden wach, der Alptraum vom Kontrollverlust, denn westlicher Siedlungsbau hatte Städtebau als eine Tätigkeit am Reißbrett definiert - wohl kontrolliert, stets doktriniert. Die nur scheinbar plan- und formlose Entwicklung "informeller“ Städte gibt uns jedoch die Chance, Urbanität neu zu erkennen. Nicht die Größe, die Dichte oder westlich arrogante Standards zählen, sondern die Mischung, die soziale und kulturelle Inklusion. Der Wert der Tat, der Wert des Wohnens, der Wert des Selbstwerts. Wir haben es mit "radikanten“ Lebensräumen zu tun, die sich organisch ausdehnen und wandernd Wurzeln schlagen. Es sind Städte, welche die größte Migration der Menschheitsgeschichte selbst und planlos schuf.

Die radikante Stadt

Sie schlagen wie Efeu nur dort Wurzeln, wo sie Halt und Nahrung brauchen, nach Mustern, die lange vor uns existierten. Sie sind reich an Sein und arm an Haben. Mit einfachsten Mitteln bauen sie sich selbst, werten sich stetig von innen heraus auf.

Wir Architekten, Planer, Ingenieure, Menschenforscher können von ihnen lernen, sie "erlernen“ und ihnen dienlich sein. Viel von dieser neuen Sichtweise ist schon vorausgedacht: Peter Sloterdijk erkennt nomadisches Denken als das einzig freie, Nicolas Bourriaud formuliert seine "radikante“ Kunst als einzig zeit-gemäße. Wur zeln in Bewegung zu setzen, Ideen zu übertragen, Gewohnheiten zu verpflanzen, den Austausch anzustreben. Das alles schließt an Hannah Arendts schönen Wert der Tat an, an Martin Heideggers Wert des Wohnens, an Ivan Illichs Wert des Selbstwerts. Die großen Themen auf dem Weg zur Selbstentwicklung sind ja nicht nur Wohnraum, Arbeitsraum und der öffentliche "Zwischen“-raum - die Bühne menschlicher Kommunikation - sondern deren Inhalte. Dort, wo das "Recht auf Stadt“ durch Demokratie erst geübt werden muss, eine Übung, die Zeit braucht und Lehrgeld kostet, da ermöglichen Nullenergiekonzepte, Vernetzungs- und Materialinnovation den direkten Sprung in "smarte“ Dimensionen. Was entsteht, ist gruppenkreatives "Open Work“, das Glaubens-, Klassen- und Geschlechterunterdrückung revolutionieren kann. Wie mobile Daten und Kommunikations-Netzwerke die globale Blechstadt schlagartig eroberten, so tun das nun auch Bewegungsstrommodelle und interaktives Stadtraum-Formen.

Der eigentliche Hauptakteur der Stadt - der Mensch - wird so in spielerischer Dimension zum Mit-Gestalter, muss, nach Edith Ackermann, "mit-erschaffen“ dürfen. Denn uns Architekten, Planern, Ingenieuren, Menschenforschern ist ja inzwischen klar: weder sklavisches Erfüllen lokaler Bedürfnisse noch arrogantes Fremdverordnen wird nachhaltig akzeptiert, sondern allein das gemeinsame Finden, Wagen und Erschaffen von kollektiver Neuerung, die man, gemeinsam, lieben wird.

Stadtkollektives Unbewusstes

Dieses kollektive Neue überrascht uns. Die Präzision seiner Formulierung, die Wucht des Wandels, den es auslöst. Als hätten wir, behaglich eingehaust in unsere westliche Wohlstands-Wohlfahrtswelt, an Wandel gar nicht mehr geglaubt. Die Stadt wird zur Wunderkammer aller Möglichkeiten, "das, was schon immer war“ und "das, wovon wir immer träumten“, zur gleichen Zeit.

Ende 2009 begann meine LOCUS-Stiftung, gerufen von koptischen Bürgervereinigungen vor Ort, ein partizipatives Gestaltungsexperiment in der 25-Millionenstadt Kairo. Kairo, das ist die Hauptstadt eines Landes im kollektiven Aufbruch. Die Jugendlichen verlassen, wo sie das können, das Land, den ältesten Siedlungsgrund der Welt, weil die Wirtschaft dort am Boden liegt. Wer bleibt, der hofft auf Gott.

Eine stille Erfolgsgeschichte

Doch auch das Schicksal jener, die ihr Heil in der Stadt suchen, ist hart. So wie jenes der Lumpensammler, die sich aus den ärmsten koptischen Gemeinschaften zusammensetzen. Sie sind in den 1970er Jahren aus Oberägypten, aus den fruchtbaren Ebenen von Assuan eingewandert und fanden nur in der Müllentsorgung Arbeit.

Trotzdem ist es eine stille Erfolgsgeschichte. Die Zeltlager auf den Müllbergen von Moqattam, dem aufgelassenen Steinbruch am Steilhang an der großen Zitadelle und der "Stadt der Toten“ wurden zu ersten stabilen Häusern. Heute, in der dritten Siedlungsgeneration, haben diese Häuser bis zu acht Geschosse und die Straßen sind, da eng und den Winden nach gebaut, im Sommer herrlich kühl. Gearbeitet wird rund um die Uhr, der Müll und mit ihm die an sich wertvollen Materialien Glas, Plastik, Pappe, Metall, werden angekarrt, sortiert, gesäubert, maschinell geschmolzen, geschreddert, granuliert, dann gelagert, bis der Markt günstig steht und man nach China, Kanada, nach Pakistan verkauft.

Die Straßen sind verdreckt und laut, des Nachts gefährlich finster, in allen Erdgeschossen brummt die Industrie, darüber wird verwaltet und gewohnt. Die Jugend hier hat Abitur, manch einer ein Universitätsdiplom von "unten in der Stadt“. Doch Arbeit zu finden, "unten in der Stadt“ ist schwer.

Ein Lumpensammler, "Zabbaleen“, bleibt man sein ganzes Leben. Aber wer meint, es gebe keinen Aufbruch zu "besseren“ Zielen, irrt. Denn der Müll geht nie aus. Und der Absatz boomt. Die kleine Selbstbaustadt am Hang ernährt viermal so viele Gastarbeiter aus dem Niltal, als sie selber zählt. Ein Fallbeispiel zirkulärer Ökonomie.

Die erste Ökostadt Nordafrikas

Ihr Ziel war Bildung, Gleichberechtigung, Innovation und nachhaltige Lebensqualität. Sie wollten mit uns arbeiten, und unseren Rat. Nach zwei Jahren der Analyse, des Zuhörens, der Auswahl der am dringendst notwendigen Verbesserungsprojekte entschlossen wir uns, eine urbane Akupunktur zu wagen, die den Stadtraum bleibend verändern sollte: Licht! Eine erste öffentliche Straßenbeleuchtung, durch Photovoltaik gespeist.

Schlummernde gestalterische Talente wurden durch den Selbstbau von Laternen aus Metallrecycling geweckt, Frauenrecht durch Beschäftigung in traditionell "männlichen“ handwerklichen Produktionslinien gestärkt, das Bewusstsein für Energieverbrauch geschärft. Das Projekt wurde ein voller Erfolg: Bei der herrschenden Energieknappheit bleiben nun die Straßen "unten in der Stadt“ oft viele Abende im Dunkeln, doch die Lumpensammler feiern "happy hour“ auf ihrem erleuchteten Platz. Die wenigen Touristen kommen schauen, die Bars sind voll. Neue, nie geplante Triebe treibt die Idee "Licht“. Hängelampen kleineren Maßstabs werden von den Frauen gebaut, drei Modelle gibt es schon, sechs Monate Warteliste darauf, und sie entwerfen weiter. So bringen die Straßenleuchten urbane Lebensqualität, einen neuen Selbstwert, die Innenleuchten intime Lebensqualität, den neuen Wert des Wohnens. Und dazu noch: Den Wert der Tat! Möglicher Wandel geschieht, leise.

Die Autorin ist Architektin, Professorin am Blekinge Inst. of Technology und UNESCO-Delegierte. Sie wird im September Gast der GLOBArt Academy in Krems sein.

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