Die Zeit aufhalten - auf ungarisch

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Ungarn hat seine Grenze abgeriegelt. Aber im Land sind immer noch Tausende Asylwerber mit Ausgrenzung konfrontiert. Kommentar eines Orbán-Kritikers.

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Ungarn hat seine Grenze abgeriegelt. Aber im Land sind immer noch Tausende Asylwerber mit Ausgrenzung konfrontiert. Kommentar eines Orbán-Kritikers.

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Einen Ausweg gibt es immer, denn die Zeit scheint manchmal fast still zu stehen - denkt vielleicht Viktor Orbán, wenn er ein politisches Abenteuer nach dem anderen umsetzt. Politisch hat er das Land abgeschottet, er polemisiert gegen die halbe Welt. Doch die Zeit steht nicht still. Sie beschleunigt sich gerade jetzt. Eine große Menge Menschen will aus einem Teil der Welt in einen anderen gelangen.

In fünfzig Jahren werden die Geschichtsbücher vielleicht von einer "Völkerwanderung" berichten und deren Auslöser. Die Schüler der Zukunft werden über die damaligen Lösungen für den globalen Umwälzungsprozess lesen. Als Fußnote dürfte irgendwo auch der Grenzzaun aus Stacheldraht an der ungarisch-serbischen Grenze vermerkt werden. Das Ziel, das damit erreicht werden sollte - die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten - konnte in keinster Weise erreicht werden. Der Zaun könnte in der Zukunft als militant-ordnungstechnisches Werkstück ausgestellt werden, das Fragen hervorruft wie: "Wie konnten sie nur glauben ".

Römische Relikte

Solche Überbleibsel findet man aus jeder Epoche. Macht man sich die Mühe, an einem stillen Herbstnachmittag die Vergangenheit heraufzubeschwören und fährt von der Autobahn Budapest-Balaton beim Autobahnkreuz Gorsium ab nach Süden, findet man nach etwa fünf Kilometern die Ausgrabungen von Gorsium-Herculia, ein ehemaliges Verwaltungszentrum im Römischen Reich, in der Provinz Pannonia. Auch da gibt es Mauern, mit denen das Römische Reich sein Territorium und seine Kultur vor den Barbaren schützte. Offensichtlich ohne Erfolg, denn in den kommenden Jahrhunderten wurden die Steine nacheinander abgetragen und die römischen Altare durch Tempel ersetzt, eben von jenen Ungarn, die inzwischen durch Zeit und Geschichte von Nomaden zu sesshaften Landnehmern geworden waren.

So geschah es überall in der Welt. So war es auch bei der Eroberung Amerikas. Als letzter Stammesführer der Indigenen, der die amerikanische Regierung immer noch bekämpfte, hatte Sitting Bull seinen Stamm nach Kanada geführt. Am 20. Juli 1881 ging er mit seinem Stamm zurück in sein Geburtsland und ergab sich den amerikanischen Truppen beim Zusammenfluss von Yellowstone und Missouri - zweifelsohne eine traurige, ergreifende Geschichte. Was den Indianer spielenden Protagonisten betrifft, ist zu bemerken, dass er in seinem späteren Lebensabschnitt mit seiner Wildwest Show entlang der Ostküste der USA sich großer Beliebtheit erfreuen konnte.

Den Leuten gefiel es besonders, wenn er sie direkt ansprach, sie in ihrer Muttersprache beschimpfte. In solchen Momenten brach das gescholtene Publikum in frenetisches Klatschen aus.

In wenigen Dekaden werden rührige japanische Touristen den Stacheldrahtzaun zwischen dem ungarischen Röszke und dem serbischen Horgos fotografieren. Wer damals in Gorsium Kaiser Septimius Severus und am Missouri Sitting Bull war, heißt in Ungarn im Jahre 2015 Viktor Orbán. Er schreibt gerade eine Heldengeschichte ähnlicher Art.

Jetzt, da der Stacheldrahtzaun sich als unnütz erweist, macht Orbán die Armee mobil. Gemäß seiner Erklärung vom 11. Januar dieses Jahres: "Wir wollen keine ernstzunehmende Minderheit mit anderen kulturellen Eigenschaften und Hintergrund unter uns haben, Ungarn wollen wir als Ungarn behalten". Gleicher Ort, gleiche Zeit:" Wir möchten ausdrücklich betonen, dass wir das nicht zulassen werden, zumindest nicht so solange ich Ministerpräsident bin. So lange es diese Regierung gibt, wird Ungarn sicher nicht Ziel von Einwanderern werden". Man beachte den Zeitraum: Während neun Monaten war es Orbán nicht möglich, die Bevölkerung und die Behörden auf die von ihm angekündigten Migranten vorzubereiten. Es gab nur die bekannten Riesenplakate mit Botschaften in ungarischer Sprache: Wenn Du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn die Arbeit nicht wegnehmen! Seine Lösung für die globale Problematik war es, einen neuen Eisernen Vorhang zu errichten. Solch plattem Denken konnte als nächster Schritt nur die Mobilmachung der Armee folgen.

Dazu kommt, dass der ungarische Staat den ankommenden Flüchtlingen zum Ausfüllen Formulare in ungarischer Sprache aushändigt. Man wird lange suchen müssen, um ein Land auf der Erde zu finden, in dem das Recht zur Nutzung der eigenen Muttersprache bei amtlichen Verfahren nicht gewährleistet ist.

Frontland Ungarn

Die Lage ist offensichtlich schwierig. In der Flüchtlingssache ist Ungarn Frontland. Zweifellos ist bei der ganzen Angelegenheit das Kabinett und an dessen Spitze, der Ministerpräsident überfordert. Diese Inkompetenz ist einerseits juristischer Natur, da er die internationalen Vereinbarungen höchstens mündlich einhält, andererseits menschlicher Natur - was genau so gewichtig ist. Der ungarische Staat geht mit den Flüchtlingen nach wie vor um wie mit wilden Tieren, die man einfangen muss. Leere Phrasen werden bemüht, er schütze Europa, suche nach den Verantwortlichen. Auf EU-Ebene unterbreitet Orbán Vorschläge, von denen auch er weiß, dass sie nicht realisierbar sind.

Während ich diese Zeilen schreibe, höre ich im Rundfunk, dass er gen Süden reist. Er inspiziert seine Truppen.

Der Autor leitet die Wochenzeitung "Leben und Literatur"

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