Die zwei Seiten der Friedensmauern

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Von Nordirland hört man wenig. Das mag ein gutes Zeichen sein. Die Zeit des Nordirlandkonfliktes in seiner heißen Phase ist vorüber. Das Karfreitagsabkommen von 1998 ermöglicht dem vom Konflikt gezeichneten Land zunehmende Stabilität, ja Normalität im Alltag. Öffentliches Leben funktioniert wie in anderen Städten auch und Polizei und Behörden werden respektiert. Das ist ein großer Schritt, wenn man sich vor Augen führt, wie die Stadt noch vor wenigen Jahren verwundet und zerrissen war.

In den Familien, den Straßenzügen und Vierteln der Stadt Belfast und insbesondere im Miteinander der Konfessionen ist der Konflikt hingegen längst nicht vorüber. Es ist allenfalls ein "kalter Friede", sagen viele. Sie spüren wie die unaufgearbeitete Vergangenheit nach wie vor die Gegenwart vergiftet.

"Was wir brauchen, ist ein sicherer Ort; wo einen niemand festnagelt und wo alles gesagt werden kann", erklärt Kate Turner, die Direktorin des Belfaster Vereins "Healing Through Remembering", was so viel heißt wie: "Heilen durch Erinnern". Sich für Versöhnung einsetzen, heißt für sie, Orte der Begegnung und des Gesprächs zu ermöglichen. Turner erklärt dabei das Leitwort ihrer Arbeit: "Whatever you say, say something". Einfach miteinander reden -das ist schon schwer genug.

Heilen durch Erinnern

Einen solchen sicheren Ort zum Dialog finden Menschen im Büro der kleinen Versöhnungsorganisation "Healing Through Remembering". Im Zentrum Belfasts gelegen, mit einem einladenden Seminarraum ausgestattet, kommen hier die zusammen, die der jahrzehntelange Nordirlandkonflikt auseinandergebracht hat: Opfer, die die Kraft aufbringen, denen zu begegnen, die ihnen oder Angehörigen Gewalt zugefügt haben; Täter, die den Mut haben, sich zu erklären oder zuzuhören. Eine "bottom up truth recovery" soll es nach dem Wunsch vieler sein: Der Wahrheit von Grund auf nachgehen, indem jeder seine Geschichte erzählen kann -in der Erwartung, zu verstehen, was wirklich war.

Trotz Verhärtung und Sprachlosigkeit in der Gesellschaft gibt es viele, die sich hier als Ehrenamtliche einbringen. Und an Finanzmitteln scheitert es auch nicht. Manche sprechen gar von einer "Versöhnungsindustrie", da Geldgeber wie die Europäische Union zu großen Summen bereit sind. Eine vom Staat mit dem Auftrag der Vergangenheitsbewältigung eingesetzte "Consultive group on the past" hatte 2009 Empfehlungen herausgegeben, in denen es zum Beispiel um einen "day of reflection" geht -einem Gedenktag, der in jedem Jahr am 22. Juni begangen werden soll.

Ferner ging es um den Vorschlag von Anerkennungszahlungen an Hinterbliebene oder an die Leidtragenden, die mit geringer Rente oft mit körperlichen Einschränkungen ihre alten Tage fristen.

Letzteres hat hingegen große Proteste ausgelöst. Sollte derjenige, der sich vor 30 Jahren beim Werfen einer Bombe selbst schwere Behinderungen zufügte, nun eine Zahlung erhalten? Ein unerträglicher Gedanke für die Opfer, von denen manche diesen Vorschlag vehement ablehnten. Nur: Wer sollte entscheiden, wer unschuldig ist und wer nicht?

Genau hier kommt die Arbeit "Healing Through Remembering" ins Spiel. Die Mitarbeiter haben in den letzten Jahren weit über 300 Gruppen moderiert und im Gespräch mit Nachbarschaften, Teamkollegen, Belegschaften praktisch und konkret Versöhnungsarbeit begonnen.

Einen Strich unter die Geschichte ziehen

Zugleich bleibt die Frage nach einer geeigneten Methode unscharf: Soll es um eine objektive Geschichtsaufarbeitung gehen oder um die individuelle Zuwendung zu den Opfern, soll es um eine exemplarische Wahrheitsfindung nach dem Vorbild Südafrikas gehen oder um ein möglichst breites Aufarbeiten hinter geschlossenen Türen, soll es nun Entschädigungen geben -oder soll nicht einfach ein Schlussstrich gezogen werden, um nach vorne zu blicken? Dies ist überhaupt eine häufig formulierte Sehnsucht, einen Strich unter die Geschichte zu ziehen.

Um hingegen diese grundsätzlichen und methodologischen Fragen anzugehen, braucht es einen Auftrag aus der Mitte der Gesellschaft, der Politik, den Kirchen. Mit konfessionellen Gründen scheint diese tiefe Abneigung wenig zu tun zu haben. Es war und ist vielmehr ein tiefer Riss zwischen Kulturen: Zwischen denen, die zu Irland gehören wollen und die in Nordirland in die Rolle der verarmten Katholiken gedrängt wurden und jenen, die die Union mit Großbritannien hochhalten, den Protestanten und die gebildet und begütert in den besseren Positionen unversöhnlich den Republikanern gegenüberstehen.

Der lang zurückliegende Anfang wurde 1690 gesetzt, als Wilhelm III. von Oranien in der Schlacht von Boyne die Katholiken besiegte und Protestanten den Landstrich beherrschten. Die Eskalation ereignete sich erst in den 70er-und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts, in denen ein Tag allein dann schon ein guter war, wenn keine Autobombe gezündet oder kein Attentat verübt wurde. Vorläufiges Ende fand der Konflikt mit dem Karfreitagsabkommen 1998, als die Menschen nach annähernd 4000 Opfern den Krieg satt hatten und der Boden endlich für die Übernahme einer gemeinsamen Regierungsverantwortung bereitet war.

Gemeinsame Geschichte

Von einer gemeinsamen Geschichtsdarstellung in den Schulen kann noch keine Rede sein, meint Kate Turner. Es mag ein Erfolg sein, wenn man sich über die Inhalte des Geschichtsunterrichtes austauscht, doch über die Geschichte selbst besteht keine Übereinkunft. Allgegenwärtig sind die martialischen Wandbilder mit politischen Botschaften, die als eine nordirische Besonderheit gelten. Hier wird Geschichte höchst einseitig in Bildern dargestellt. In den katholischen Wohngebieten in West-Belfast halten sie das Gedenken an die "Märtyrer" der letzten Jahrzehnte hoch, während in den protestantischen Vierteln East-Belfasts an Wilhelm II als Verteidiger des Glaubens erinnert wird. Ganze Straßenzüge werden nach wie vor von Demarkationslinien, den sogenannten "peace walls" getrennt und sind allein durch Durchgänge verbunden, die nachts geschlossen gehalten werden.

Die Friedensinitiativen in Belfast und Nordirland arbeiten je nach eigener Gewichtung und Themensetzung; auf einen Nenner lassen sie sich nicht bringen. Kate Turner ist überzeugt, dass die Leute selbst entscheiden müssen, woran sie arbeiten wollen. Es gibt keine Agenda für die Versöhnungsarbeit. Der sichere Rahmen ist das Angebot. Sie drückt dies mit einem Bild aus: "Wir graben keine Kanäle, wir arbeiten mit den Flüssen." Es gab genug Eingriffe von außen, Maßnahmen, die verpuffen oder die neue Verhärtungen bewirken. Die Leute sollen selbst zu Handelnden werden. Um im Bild zu bleiben: Wenn auch die Flüsse nicht überall hinkommen und nicht immer so fließen, wie man es gerne hätte, so bietet sich doch keine Alternative, als sich auf gegebenen Wegen langsam dem Ziel der Versöhnung entgegen zu arbeiten. Und woran misst sie den Erfolg ihrer Arbeit?"Wenn es uns einmal nicht mehr geben wird", sagt sie und schmunzelt.

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