"Dieses System ist totalitär"

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Manfred Lütz, Psychiater und katholischer Theologe aus Köln, über den modernen Gesundheitskult.

Die Furche: Sie kritisieren die derzeit vorherrschende "Gesundheitsreligion". Was meinen Sie damit?

Manfred Lütz: Ich glaube, dass die Leute heute das Glück, das Heil, den Sinn des Lebens, geradezu Gott in der Gesundheit suchen - und nicht finden. Das ganze Leben ist dann eine Anleitung zum Unglücklichsein: Man stolpert von Fitnessstudios in Wellnesseinrichtungen und verbringt wahnsinnig viel Zeit damit, endlich etwas für sich zu tun, statt zu überlegen, ob man nicht auf seinem Sterbebett einmal sagen muss: Wie viel Zeit habe ich dafür verschwendet, vorbeugend zu leben, um den Tod zu vermeiden - und letztlich habe ich mir dabei das Leben genommen, nämlich ganz viel unwiederholbare Lebenszeit. Diese Gesundheitsreligion ist auch total unsolidarisch: Jeder interessiert sich nur für seine Laborwerte und seine Prognose - und das Soziale bleibt außen vor. Und schließlich: Wenn Gesundheit das höchste Gut wäre, dann hätte jeder einen Anspruch auf maximale Diagnostik und Therapie. Das wäre der sofortige finanzielle Zusammenbruch des Gesundheitssystems.

Die Furche: Gesundheitspolitiker sind also in einer No-Win-Situation: Wenn sie einen sparsameren Einsatz medizinischer Leistungen fordern, betreiben sie im Grunde Blasphemie...

Lütz: Ja. In diesem totalitären System der Gesundheitsreligion kann man über Jesus Christus jeden Scherz machen, aber bei der Gesundheit hört sich der Spaß auf. Politik ist die Kunst des Abwägens - ein höchstes Gut kann man aber nicht abwägen, dafür muss man alles tun. Erst wenn wir sagen können: Gesundheit ist ein sehr hohes Gut, aber nicht das höchste, dann können wir politisch diskutieren.

Die Furche: Manche sehen die Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation als Grundübel. Laut WHO ist Gesundheit der "Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens"...

Lütz: Diese Definition ist sicher gut gemeint - vor allem der Umstand, dass auch das soziale Wohlbefinden integriert wurde. Aber das Wort "völlig" macht alles zur Utopie, weil dann natürlich niemand völlig gesund ist. Ein berühmter Mediziner hat einmal sarkastisch gesagt: Gesund ist ein Mensch, der noch nicht ausreichend untersucht wurde!

Die Furche: Sie stoßen sich am Ausdruck "Ganzheitsmedizin". Warum?

Lütz: Ich bin nicht gegen den Ausdruck Ganzheitlichkeit - nur weise ich darauf hin, dass das ein religiöser Ausdruck ist. Natürlich ist die psychosomatische Sicht der Interaktion von Körper und Seele ein Fortschritt. Aber die Psychosomatik ist keine Ganzheitsmedizin. Ganzheitlich im eigentlichen Sinn ist zum Beispiel eine Wallfahrt: Hier beschreitet man einen geistigen Weg, einen körperlichen Weg und man macht es in Gemeinschaft. Letztlich wird uns Ganzheit aber geschenkt - Gnade nennt man das. Gerade der Protestantismus hat deutlich gemacht, dass wir durch noch so viele Ablässe keine Gnade produzieren können - und das glauben ja auch die Katholiken nicht. Eine solche Werkgerechtigkeit ist aber heute in der Gesundheitsreligion gang und gäbe - frei nach dem Motto: "Wer stirbt, ist selber schuld".

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

ZULETZT ERSCHIENEN:

LEBENSLUST. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult. Von Manfred Lütz.

Pattloch Verlag, München 2002.

208 Seiten, geb., e 15,30.

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