"Diesmal kratze ich die Kurve“

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Rund 200.000 Menschen - 90 Prozent davon Frauen - leiden in Österreich unter Essstörungen. In der Linzer Mädchen-WG "Kaya“ werden Betroffene bei ihrer Rückkehr in den Alltag begleitet. Ein Lokalaugenschein.

Heidi Klum schaut streng. Dramatische Musik untermalt ihren Auftritt. Zwei Freundinnen müssen vor der Jury antreten: "Gina-Lisa, Sara, wir alle haben in euch Potenzial für diesen Job gesehen.“ Klum macht eine bedeutungsschwere Pause. "Ihr habt euch verbessert, angestrengt, ihr habt euch beide entwickelt. Aber leider eine mehr als die andere.“ Die Kandidatinnen brechen in Tränen aus. Unschöne Szenen aus "Germany’s Next Topmodel“.

Schönheit ist in unserer "exzessiven Leistungsgesellschaft“, wie die Schweizer Psychotherapeutin Verena Kast es beschreibt, kein Geschenk mehr, sondern das Resultat der eigenen Leistung. Wenn man nur hart genug an sich arbeitet, ist man schön bzw. dem Schönheitsideal entsprechend perfekt.

Idealbild im Kopf

"Ich hasse Heidi Klum“, sagt die 16-jährige Babsy, die seit Herbst in der Linzer Wohngruppe "Kaya“ für Mädchen und junge Frauen mit Essstörungen lebt. Sie sitzt im Wohnzimmer auf der geräumigen Couch. Ihre WG-Kollegin Maria hat am Schreibtisch ihre Schulunterlagen ausgebreitet und lernt. Sie wirkt ein wenig zu schmal, aber Babsy schaut gesund aus. Auffällig sind an ihr bestenfalls die blondierten Haare und das Piercing am Kinn. Zuvor war sie von Ostern bis Juli im Spital. "Ich hasse die ganze Modebranche. Ich habe mir im Kopf dieses Idealbild gemacht. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich nicht so aus, wie ich aussehen soll.“

In der Wohnung gibt es keine Waage und keinen Ganzkörperspiegel, dafür einen Massagetisch, eine Infrarot-Kabine, die gespendet wurde, und eine geräumige Küche mit großem Esstisch. In einer Obstschale liegen Äpfel, Mandarinen und Orangen. Beim Eingang zur WG steht groß "Mädels-Zone“ sowie "VIP-Bereich“. Wenn im Fernsehen Castings-Shows laufen, dürfen die Mädchen sie anschauen. Generelle Verbote würden wenig bringen, sagt Verena Rames-eder, die Leiterin der WG. Auch Zeitschriften mit retuschierten Fotos und Diätempfehlungen werden nicht rigoros verbannt. Aber die Mitarbeiterinnen sprechen mit den Mädchen darüber. "Sie sollen lernen, das kritisch zu hinterfragen: Wenn dort berichtet wird, wie groß eine Frau ist, wie viele Kilo sie hat oder welche neuen Wunder-Diäten es gibt, dann sollen sie sich auch fragen, was dieses Medium da mit ihnen macht und warum“, erklärt die Sozialarbeiterin.

Das ist Sisyphusarbeit gegen eine mediale Übermacht: Die täglichen Bilder bleiben bei den meisten Frauen nicht wirkungslos. Doch Frauen mit Essstörungen zeigen drastisch, wie krankmachend sie sein können. Etwa 200.000 Österreicher und Österreicher sind von Essstörungen betroffen, 90 Prozent davon sind Frauen.

Kluft zwischen Klinik und Alltag

Kaya - auf indianisch "die große Schwester“ - soll helfen, wieder zurück ins Leben zu finden. Die Mädchen-WG ist seit 2010 die einzige derartige Einrichtung in Österreich. In Deutschland gibt es solche Angebote schon seit 20 Jahren. "Die Rückfallquote ist höher, wenn die Klientinnen direkt von der Klinik wieder in ihr altes Umfeld zurückkehren. Der Kontrast ist zu groß“, weiß Andrea Boxhofer, Geschäftsführerin des Diakonie Zentrums Spattstraße, das die Wohngruppe betreibt. "Kaya kann den Übergang nun gut gestalten.“ Es war ein langes Ringen ums Geld mit den Ämtern, wobei auch der Kinderarzt Werner Gerstl harte Überzeugungsarbeit geleistet habe, erzählt Boxhofer: "Das Projekt ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss“, gesteht sie. "Es entwächst gerade den Babyschuhen und geht die ersten Schritte. Es fehlt noch eine mobile Nachbetreuung. Das zu erreichen, wäre gut.“ Doch Boxhofer weiß, wie schwierig derzeit die Finanzierung neuer Projekte ist: Die Kosten für sieben WG-Plätze belaufen sich auf etwa 37.000 Euro pro Jahr.

Derzeit wohnen in drei Doppelzimmern und einer Garconniere Betroffene zwischen 15 und 31 Jahre. Im Schnitt bleiben sie 18 Monate. Auf der Warteliste stehen rund 15 Mädchen, auch Anfragen aus anderen Bundesländern kommen immer wieder. Die Rolle der "großen Schwester“ nehmen neben Rameseder noch fünf Sozialpädagoginnen, eine Psychologin und ein Diätologe ein. "Diät“ sei in dem Zusammenhang eventuell ein problematischer Begriff, räumt Rameseder ein, aber die ursprüngliche Bedeutung sei ja "Lebensführung“. Zusätzlich kümmern sich Ergo- und Physiotherapeutinnen um die Frauen. "Die Ursachen für Essstörungen liegen in der Familie, in den Mädchen selbst, im Umfeld, auch in anderen Krankheiten wie Borderline“, erklärt Rameseder. "In der Therapie muss man deshalb auch auf mehreren Ebenen ansetzen, psychotherapeutisch, mit Bewegung wie Yoga und Nordic Walking und beim Essen.“

Der Diätologe Wolfgang Grünbart kocht täglich mit den Mädchen, die Zutaten werden frisch am nahen Südbahnhof-Markt eingekauft. Das soll möglichst normal ablaufen, wobei Grünbart darauf achtet, dass sie auch immer wieder neue Lebensmittel ausprobieren, angreifen, riechen. Das gemeinsame Kochen und Essen am Abend ist ein Fixpunkt und soll dieses Ritual wieder sinnvoll und schön machen. Denn davon sind die Mädchen weit entfernt. "Sie ekeln sich richtiggehend vor dem Essen. Manche haben lange Listen verbotener Lebensmittel“, erklärt Rameseder. Grünbart gibt den Speiseplan vor, aber die Frauen können auch Vorschläge machen. "Wenn es nur nach ihnen gehen würde, würden sie täglich Tomaten essen, egal aus Spanien oder sonst woher“, erzählt er. "Ich versuche mit ihnen ein Mittelmaß zu finden. Mit der Zeit ist es wieder normal, dass sie auch Nudeln essen. Aber das ist Kleinstarbeit.“ Als einziger Mann im Team ist seine Rolle wesentlich. Das Schönheitsideal ist immer wieder Gesprächsthema, erklärt er: "Ich versuche ihnen klarzumachen, dass dieses Ideal Schwachsinn und unrealistisch ist.“

Gestörter Blick auf den Körper

Doch die Mädchen haben oftmals eine Körperschema-Störung. Im Gespräch mit Babsy zeigt sich das sehr anschaulich: "Es kommt mir so vor, als ob ich so einen dicken Bauch hätte und hier viel zu flach wäre“, sagt sie und formt mit ihren Händen einen Bauch, wo keiner ist, und eine flache Brust, die nicht der Realität entspricht. "Ich rede mir das nicht ein, ich sehe das einfach so und was man sieht, das glaubt man auch.“ Jahrelang hätten ihre Mitschüler sie gehänselt, verprügelt und mit Flaschen beworfen. Lehrer und Eltern meinten, das sei "altersgerechte Rangelei“. Sie habe keine Freunde gehabt, sich allein gefühlt und dauernd gehört, dass sie hässlich sei. "Dann fragt man sich natürlich, ob das wirklich so ist“, erzählt sie. Babsy begann sich zu ritzen und unternahm mehrere Suizidversuche. Und sie lief täglich stundenlang bis zur totalen Erschöpfung. Trotzdem habe sie nichts abgenommen, erinnert sie sich. Also begann sie zu hungern und kleine Portionen sofort wieder zu erbrechen.

"Hier und bei meinem Freund geht es mir nun gut“, erzählt Babsy, "nur zu Hause bei den Eltern geht es mir schlecht.“ Zu Weihnachten wird sie nicht zu ihnen fahren. Das Fest mit seinen intensiven familiären Kontakten und dem üppigen Essen ist belastend - wenn auch nicht sehr viel mehr als der allgegenwärtige Nahrungsüberfluss, die gleichzeitige Entwertung von Lebensmitteln und die Medienbilder. Babsy, die trotz ihrer Ausnahmesituation die Hauptschule abgeschlossen und auch im Gymnasium bisher gute Noten geschafft hat, ist dennoch zuversichtlich: "Ich habe nun eine Weile lang nicht mehr gekotzt. Ich glaube, diesmal kratze ich die Kurve.“

Zum Thema Schönheitschirurgie lesen Sie bitte den Beitrag auf Seite 6.

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