Karahasan  - © Foto: imago / gezett

Dževad Karahasan: Erzähler, Grenzgänger, Mystiker

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Der am 19. Mai 2023 verstorbene Schriftsteller Dževad Karahasan erhält posthum den Fritz-Csoklich-Demokratiepreis. Die Styria Media Group und ihre Marken DIE FURCHE, "Kleine Zeitung", "Die Presse" und Styria Buchverlage ehren damit einen großen Brückenbauer und Versöhner.

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Der am 19. Mai 2023 verstorbene Schriftsteller Dževad Karahasan erhält posthum den Fritz-Csoklich-Demokratiepreis. Die Styria Media Group und ihre Marken DIE FURCHE, "Kleine Zeitung", "Die Presse" und Styria Buchverlage ehren damit einen großen Brückenbauer und Versöhner.

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„Dževad Karahasan war ein großer Erzähler, der das kleine, vergessene, verwundete Bosnien zum Ort der europäischen Literatur machte. Mit seinem Werk hat er das Fenster zu einem tiefgehenden Verständnis der dort lebenden Menschen weit aufgestoßen. Die vielfältigen Verwerfungen und Verletzungen nach dem Zerfall des jugoslawischen Vielvölkerstaates beschrieb er mit leiser, dafür umso eindringlicherer Stimme.“

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Mit diesen Sätzen beginnt die Jury ihre Begründung für die Zuerkennung des diesjährigen Fritz-Csoklich-Demokratiepreises an Dževad Karahasan. Noch pünktlich zu seinem 70. Geburtstag im Jänner dieses Jahres hatte er mit „Einübung ins Schweben“ einen neuen Roman vorgelegt – ein „lyrisches Panoptikum des Krieges“, wie FURCHE-Redakteurin Manuela Tomic in ihrer Besprechung am 18. Jänner schrieb. Nur vier Monate später, am 19. Mai, ist Karahasan in Graz verstorben – und seine leise, dafür umso eindringlichere Stimme ist für immer verstummt. „Er war die Stimme Sarajevos in Österreich – und zugleich stimmt diese Aussage nicht, denn Dževad Karahasan erinnerte mit seinen Romanen, Dramen und Essays ja gerade an die Stimmen Sarajevos im Plural“, schrieb FURCHE-Feuilletonchefin Brigitte Schwens-Harrant in ihrem Nachruf.

Vereinfachung als Sünde

Karahasan habe zudem stets gewusst: „Das dualistische Weltbild ist gefährlich, weil es eine Vereinfachung darstellt, die erfolgreich so tut, als wäre sie keine.“ Schon gar nicht dürften sich ein Schriftsteller und die Literatur, wie er sie verstehe, auf so eine Vereinfachung einlassen; „die Vereinfachung ist meinem Empfinden nach eine fundamentale Sünde, die schwerste, die Literatur [und nicht nur sie, das zeigt die Geschichte ja immer aufs Neue] begehen kann“. Es waren Gedanken und Sätze wie diese, die Dževad Karahasan für den Fritz-Csoklich-Demokratiepreis prädestinieren.

Der andere blieb für Dževad Karahasan immer unabdingbare Voraussetzung für die eigene Freiheit.

Jurysitzung - Die Jury 2023 – sitzend von links: Florian Asamer, Irmgard Griss, Helga Rabl-Stadler, Eeva Schlegel, Brigitte Bierlein, Nava Ebrahimi. Stehend von links: Markus Mair, Thomas Götz, Franz Küberl, Manfred Prisching, Michael Csoklich, Lojze Wieser, Doris Helmberger, Matthias Opis, Helga Kromp-Kolb, Valerie Fritsch. Nicht im Bild: Oliver Vitouch. - © Foto: Jana Madzigon
© Foto: Jana Madzigon

Die Jury 2023 – sitzend von links: Florian Asamer, Irmgard Griss, Helga Rabl-Stadler, Eeva Schlegel, Brigitte Bierlein, Nava Ebrahimi. Stehend von links: Markus Mair, Thomas Götz, Franz Küberl, Manfred Prisching, Michael Csoklich, Lojze Wieser, Doris Helmberger, Matthias Opis, Helga Kromp-Kolb, Valerie Fritsch. Nicht im Bild: Oliver Vitouch.

Mit der Auszeichnung, die seit 2019 alle zwei Jahre von der Styria Media Group gemeinsam mit ihren Marken Kleine Zeitung, Die Presse, DIE FURCHE und den Styria Buchverlagen vergeben wird, sollen Menschen geehrt werden, die in ihrem Leben und Wirken zur Überwindung von Schranken aller Art beigetragen haben, von Polarisierung, Nationalismus bis hin zu Fanatismus. 2019 wurde der Universalkünstler Arik Brauer mit dem Preis geehrt – der noch im selben Jahr verstarb. 2021 wurden die belarussischen Bürgerrechtlerinnen Swetlana Tichanowskaja, Maria Koleschnikowa und Veronika Zepkalo ausgezeichnet.

Fritz Csoklich: Mann mit Grundsätzen

Auch der Namensgeber des Preises, Fritz Csoklich, stand paradigmatisch für Mut, Courage und Brückenbauen. Von 1960 bis 1994 Chefredakteur der Kleinen Zeitung, war Csoklich von christlichen Prinzipien geprägt, vertrat klare Grundsätze und eine tiefe demokratische Gesinnung. Sein Ziel waren die Überwindung historischer Gräben, die Versöhnung verfeindeter Gruppierungen im Land und die Stärkung der Demokratie. Lange vor dem Fall des Eisernen Vorhangs suchte er bereits den Kontakt mit Politik und Kirche in den Ländern Ost- und Südosteuropas – in der Hoffnung auf die Überwindung der Spaltung des Kontinents.

Ähnliche Weltoffenheit, ähnliches Brückenbauen gelten auch für Dževad Karahasan. „Er selbst war ein Grenzgänger zwischen Orient und Okzident, zwischen Islam und Christentum, der mühelos die Brücke von Plato zu ‚Tausendundeiner Nacht‘ und von Duns Scotus zu Kleist schlug“, heißt es weiter in der Jurybegründung. „Obwohl der Krieg ihn heimatlos gemacht und seine Stadt, das multikulturell blühende Sarajevo, zerstört hatte, warb er unermüdlich für die Begegnung und den Dialog. Er verfiel nicht dem verführerischen Gedanken an Rache, sondern glaubte an die heilende Kraft einer Umarmung.“

Das „wahre Gespräch“

Der binären Logik, welche die Welt heute nur zu oft in Freund und Feind, in Gut und Böse scheidet, verweigerte er sich ebenso wie der Vorstellung von einem Kampf der Kulturen. Denn er war überzeugt davon, dass der Mensch keinen Feind braucht, um seine eigene Identität zu artikulieren. „Ich bin ich, weil du du bist, und du bist du, weil ich ich bin“, war für ihn, den gläubigen Muslim und Mystiker, die Formel, der Ausgangspunkt für das „wahre Gespräch“, das er als Austausch und Gelegenheit zum Kennenlernen verstand, und nicht als Bestätigung eigener Meinungen und weltanschaulicher Standpunkte. Der andere blieb für ihn immer unabdingbare Voraussetzung für die eigene Freiheit. Diese offene Haltung bestimmte auch sein Ringen um eine angemessene Wahrnehmung und Beurteilung der erlebten Vergangenheit, die er als „Fangeisen“ bezeichnete, „das uns die Zeit aufgestellt hat“.

Im Verständnis Karahasans ist Literatur absolut nutzlos und hat keine Funktion, wohl aber einen Zweck: Literatur verteidige die wunderbare Komplexität, Kompliziertheit des menschlichen Wesens. Sie erinnere Menschen daran, dass sie nicht nur Wesen der Vernunft sind, sondern auch ein pathetisches Universum haben und einen metaphysischen Kern in sich tragen. Und Literatur immunisiere dagegen, Menschen und Verhältnisse auf eine einzige Dimension zu reduzieren.“

Im Oktober wird der mit 10.000 Euro dotierte Fritz-Csoklich-Demokratiepreis an die Witwe Dževad Karahasans übergeben.

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