Ein allzu langer LEIDENSWEG

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Schmerzpatienten werden oft unzureichend behandelt und irren jahrelang im Gesundheitssystem herum. Eine "Patientenkarriere" aus Österreich.

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Schmerzpatienten werden oft unzureichend behandelt und irren jahrelang im Gesundheitssystem herum. Eine "Patientenkarriere" aus Österreich.

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Am Morgen war es die Hölle. Wie ein Band legte sich der Schmerz um ihren Nacken. Erst kribbelte es, dann brannte es, dann schoss der Schmerz in die Arme. Schwer und tot fühlten sie sich an, und die Hände ganz taub. Lieselotte H. wusste nicht, wie sie aus dem Bett steigen sollte, wie sich ankleiden, wie die Zeitung halten. Irgendwie schleppte sie sich dann ins Büro.

14 Jahre lang litt die heute 59-jährige Wahlwienerin unter schweren chronischen Schmerzen an der Halswirbelsäule. Sie pilgerte von Arzt zu Arzt, eine Schmerzinfusion reihte sich an die nächste, immer wieder wurde sie operiert. Auch die Dosis an Medikamenten stieg kontinuierlich, irgendwann half nur noch Morphium. Doch vor drei Monaten endete plötzlich ihre Leidensodyssee. Sie fand Hilfe in einer Schmerzambulanz.

Sieben Monate Krankenstand

In der österreichischen Schmerzmedizin spitzt sich derweil die Lage immer weiter zu. Denn ausgerechnet die Schmerzambulanzen sind die ersten, die den Kürzungen im Gesundheitssystem zum Opfer fallen. Allein in den letzten drei Jahren mussten zehn der 44 Ambulanzen in Österreich aufgrund des enormen Kostendrucks schließen. Weh tut das vor allem den Patienten.

So wie Lieselotte H. Ihre Schmerzgeschichte beginnt 2001. Zunehmend klagt die dunkelhaarige Frau über Schmerzen an der Wirbelsäule. Sie geht zum Orthopäden. Doch sie hat das Gefühl, dass er sie nicht ernst nimmt. Der Facharzt gibt ihr über Monate hinweg nur Infusionen. Der Schmerz lässt nicht nach. An Pfingsten hält sie es nicht mehr aus. Die Schmerzen sind so stark, dass sie nicht mehr gehen kann. Lähmungen in den Oberschenkeln treten auf. Auch den Harn kann sie nicht mehr halten. H. lässt sich ins Spital bringen, dort wird sie notoperiert: Bandscheibenvorfall. "Wenn ich nicht aus Eigeninitiative ins Krankenhaus gefahren wäre, hätte mich der Arzt wahrscheinlich immer weiter infiltriert", sagt sie.

Kurzfristig ist es besser, dann kommt der Schmerz mit aller Wucht zurück. Lieselotte H. durchlebt privat eine schwere Zeit. Sie trennt sich von ihrem Mann, die Scheidung wird sich über Jahre ziehen. Ihre Mutter wird zum Pflegefall. Das zehrt an ihren Kräften. Zwei Jahre später, zu Weihnachten, erreichen ihre Schmerzen einen neuen Höhepunkt: Drei Finger sind taub, sie kann beim Essen den Löffel nicht mehr halten. Wieder lässt sie sich ins Spital bringen, wieder wird sie operiert. Einige Wochen und dutzende Cortison-Infusionen später darf sie wieder nach Hause. Sieben Monate bleibt sie im Krankenstand.

Jeder Fünfte in Österreich leidet laut Studien an chronischen Schmerzen. Die Ursachen sind oft vielschichtig - das können körperliche, seelische und sogar soziale Gründe, wie etwa Arbeitslosigkeit, sein. "Das Krankheitsbild ist derart komplex, dass viele Ärzte schlicht überfordert sind", sagt Renate Barker, Leiterin der Schmerzambulanz im Wiener Krankenhaus St. Elisabeth sowie Präsidentin der Plattform "Schmerzinformation - Wissen macht stark".

"Gerade die Psyche und die familiäre Situation spielen immer mit rein", so Barker. "Eine Fachrichtung allein stößt hier leicht an ihre Grenzen." Sie habe außerdem die Erfahrung gemacht, dass viele Ärzte von neuartigen schmerzbekämpfenden Medikamenten noch nie gehört haben. "Die Schmerztherapie betrifft aber jedes Fachgebiet und jeden Arzt", sagt die Ärztin. Denn: Schmerzlinderung ist ein Menschenrecht.

Analgetika und Antidepressiva

Es gibt in diesen Jahren Momente, in denen Lieselotte H. denkt, dass sie nicht mehr kann, dass sie es einfach nicht aushält. Meistens dann, wenn sie allein zuhause liegt und der Schmerz ihren Körper lähmt. Anfangs nimmt sie nur einmal pro Woche Schmerzmittel, irgendwann täglich. Sie fragt sich: "Wieso ich?" Die Verzweiflung nimmt zu, man verschreibt ihr Antidepressiva.

Sie ist gerade 47, als ihr Arbeitgeber ihr nahelegt, in die Berufsunfähigkeit zu gehen. Sie füllt den Antrag aus -verwirft ihn aber wieder. Und geht wieder arbeiten. Denn sie hat eine neue Wohnung gefunden, ihre Kinder studieren, sie braucht das Geld. Jedes Jahr hat sie Kur- und Reha-Aufenthalte, ununterbrochen Therapien, eine weitere Operation folgt. Trotzdem bleibt der Schmerz ihr ständiger Begleiter.

Eigentlich hat Lieselotte H. die Hoffnung auf Schmerzlinderung schon aufgegeben, als sie ein Plakat auf der Straße entdeckt, das den "Wiener Schmerztag" ankündigt, eine Informationsveranstaltung für Betroffene und Fachpersonal. 2002 kam Barker, damals noch Assistenzärztin, die Idee: "Es gab für jede Krankheit Aktionstage - nur nicht für den Schmerz." Inzwischen kommen jedes Jahr rund 9000 Menschen zu der Fachtagung.

Barker lädt Lieselotte H. bei dieser Gelegenheit in die Schmerzambulanz. "Mir war bis dahin völlig neu, dass es so etwas gibt", so H. "Wieso hat mir nie einer meiner Ärzte davon erzählt?" Zum ersten Mal hat sie das Gefühl, ernstgenommen zu werden. Ein ausführliches Erstgespräch sei essentiell, erklärt Barker. "Bei uns wird der Mensch als Ganzes gesehen. Denn das Gespräch und die Hoffnung sind wichtiger als jedes Rezept." In den Schmerzambulanzen kümmert man sich vor allem um Rheuma-, Osteoporose-, Bauch- und Tumorschmerzen, oder auch Schmerzen, die durch Diabetes ausgelöst werden. Das Wiener AKH verfügt sogar über eine eigene Kopfschmerz-Abteilung. Insgesamt 350.000 chronische Schmerzpatienten werden hierzulande in derart speziellen Einrichtungen behandelt. Multimodale Schmerztherapie heißt das magische Rezept der Schmerzambulanzen: Mehrere Ansätze und Fachgruppen greifen ineinander: Radiologen werden hinzugezogen, Anästhesisten kümmern sich um die medikamentöse Schmerzlinderung, Internisten um die Vorerkrankungen, Neurologen um die nervlichen Zusammenhänge. Auch Psychologen werden von Anfang an eingebunden. "Die Betroffenen haben ja in der Regel schon viel mitgemacht", so Barker. "Doctor-Shopping" nennt sie es.

Viele Studien belegen, dass das spezielle Angebot der Schmerzambulanzen wirkt - und das sogar sehr kosteneffizient, da stationäre Aufenthalte signifikant reduziert werden. Dies entlastet die Krankenkassen, auch die Patienten werden schneller wieder ins Arbeitsleben integriert - Dauerkrankenstände nehmen deutlich ab.

Schmerzliche Sparmaßnahmen

Doch die multimodale Schmerztherapie ist zeit- und kostenintensiv. Das neue Arbeitszeitgesetz der Spitalsärzte, das kürzere Wochenarbeitszeiten vorsieht, wird die Situation zusätzlich verschärfen. Der finanzielle Druck steigt, die Personalsituation wird immer prekärer. Am stärksten ist Oberösterreich betroffen. Doch auch das Burgenland verfügt nur über eine Schmerzambulanz, und diese steht kurz vor der Schließung. Im größten Krankenhaus Österreichs, dem Wiener AKH, wurden 24-Stunden-Schmerzdienste ersatzlos gestrichen.

Mit jeder weiteren Schließung droht eine Unterversorgung der Patienten. Schon jetzt müssen diese mit immer längeren Wartezeiten rechnen, sechs Wochen in Wien, bis zu drei Monate in den restlichen Bundesländern. Niedergelassene Ärzte, oft immer noch erste Anlaufstelle, können die Versorgungslücken nicht ausgleichen, bekundete kürzlich die Österreichische Schmerzgesellschaft. "Es ist verheerend, wenn es keine Akut-Ansprechpartner gibt", bekräftigt auch Barker, "aber uns bleibt bald nichts mehr anderes übrig als ein Patienten-Aufnahmestopp." Es werde an der falschen Stelle gespart, meint die Ärztin. Denn eine Schmerzambulanz biete einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Spitälern.

Lieselotte H. wird seit Jänner in der Wiener St. Elisabeth-Ambulanz behandelt. Die "CT-gezielte Blockade", bei der ein Medikamenten-Cocktail punktgenau über eine Computer-geführte Injektionsnadel an den Schmerzherd gebracht wird, brachte den Durchbruch. Seitdem braucht sie kein Morphium mehr; sie ist schmerzfrei. Die psychologische Gesprächstherapie hilft ihr zusätzlich: "Ich habe ein neues Leben."

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