Ein Arbeitsleben trotz Multipler Sklerose

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Unklare Ursache, keine Aussicht auf Heilung: Multiple Sklerose greift die Nerven an, führt zu Erschöpfung und unterschiedlichen Störungen. Dennoch ist es für Betroffene besser, im Arbeitsprozess zu verbleiben.

Manuela Lanzinger leidet an Multipler Sklerose. Für so manchen Arbeitgeber wäre das ein Grund, sie loszuwerden - nicht jedoch für ihren. Im Gegenteil: Ihr Arbeitsplatz wurde barrierefrei gestaltet und ihr steht ein Behinderten-WC zur Verfügung. Sie kann ihre Arbeitszeiten flexibel gestalten, um Arzt- und Therapietermine wahrzunehmen und bisweilen von zu Hause aus arbeiten. In ihrem Büro steht ein Sofa, auf dem sie sich kurze Ruhepausen gönnen kann, wenn die mit der Erkrankung verbundene Ermüdung plötzlich übermächtig wird. Trotz ihrer Krankheit ist Lanzinger beim Dachverband der österreichischen Umweltberatungseinrichtungen ("die Umweltberatung“) eine voll akzeptierte Mitarbeiterin. "Mein Chef sagt, dass ich seltener im Krankenstand bin als andere Mitarbeiter - obwohl ich fix drei Woche im Jahr auf Rehabilitation gehe“, bekräftigt sie nicht ohne Stolz.

Doch unter all jenen, die an Multipler Sklerose (MS) leiden, gehört Manuela Lanzinger einer Minderheit an. Aus einer aktuellen Umfrage geht hervor, dass rund die Hälfte der Betroffenen unter 60 Jahren nicht mehr arbeitet. "Oftmals ist das geringe allgemeine Wissen über Multiple Sklerose und über das durch die modernen Therapeutika veränderte Krankheitsbild die Ursache, dass Menschen mit MS vorzeitig aus dem Arbeitsprozess ausscheiden müssen bzw. gar nicht die Gelegenheit erhalten, einen Beruf auszuüben“, erklärt Ursula Hensel, Geschäftsführerin der MS-Gesellschaft Wien. Diese Einrichtung, die Information, Beratung und Hilfe für von Multipler Sklerose betroffene Menschen bietet, hat nun das Projekt "Mit MS arbeiten“ ins Leben gerufen. Deklariertes Ziel ist es, MS-Patienten einen längeren Verbleib in der Arbeitswelt zu ermöglichen. Dazu wurde die Wirtschaftskammer, ins Boot geholt.

15.000 Betroffene in Österreich

Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste neurologische Krankheit im jungen Erwachsenenalter. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer. In Österreich geht man von 12.000 bis 15.000 Betroffenen aus. Es handelt sich um eine chronische Erkrankung, bei der es zu entzündlichen Veränderungen in Teilen des zentralen Nervensystems kommt. Die Ursache ist bisher unbekannt, man vermutet eine Autoimmunerkrankung. Das bedeutet, dass das Immunsystem fälschlicherweise Teile des Nervensystems angreift und Entzündungen hervorruft. Dies unterbricht die Informationsübertragung im Nervensystem, was verschiedene Störungen hervorruft, je nachdem, wo der Entzündungsherd lokalisiert ist, im Gehirn oder im Rückenmark: Erschöpfung ("Fatigue-Syndrom“), Sehstörungen, Gleichgewichtsprobleme, Beeinträchtigungen der Bewegungsfähigkeit, Blasenprobleme, Gehstörungen und kognitive Probleme.

Die bei den meisten Betroffenen zu Beginn schubförmig verlaufende Krankheit ist bis heute nicht heilbar. "Allerdings haben sich die Therapieoptionen in den letzten Jahren kontinuierlich verbessert“, betont Karl Vass, Professor an der Wiener Universitätsklinik für Neurologie

"Mit den Therapien, die uns heute zur Verfügung stehen, ist die Vereinbarkeit von MS und Beruf in vielen Fällen möglich“, bekräftigt Vass, zugleich Präsident der MS-Gesellschaft Wien: "Auch aus medizinischer Sicht ist der Verbleib im Arbeitsprozess sinnvoll, da sich ökonomische Sicherheit, ein gutes Selbstwertgefühl und Erfolg am Arbeitsplatz positiv auf den Krankheitsverlauf auswirken.“

Zeitgerechte Adaptionen

Geht es nach der Wirtschaftskammer, so macht es für Arbeitgeber Sinn, an MS erkrankte Mitarbeiter weiter zu beschäftigen - aus ökonomischen Gründen "Die Wirtschaft kann sich den Verlust von erfahrenen und gut ausgebildeten Mitarbeitern nicht leisten. Gerade in kleinen Unternehmen ist ein guter Mitarbeiter aufgrund seines Wissens und seines Know-hows nicht wirklich ersetzbar“, ist Brigitte Jank, Präsidentin der Wirtschaftskammer Wien überzeugt. Man beteilige sich an dem Projekt "Mit MS arbeiten“, um das "Bewusstsein der Unternehmen für die Potenziale chronisch kranker Menschen weiter zu schärfen“.

Bei einem runden Tisch zum Thema in der Wiener Wirtschaftskammer betonten Experten, dass das Entgegenkommen der Arbeitgeber weniger aufwändig und kostspielig sei als gedacht. "Oft sind nur kleine Veränderungen nötig, die die Organisation des Arbeitsablaufes, die Möblierung oder bauliche Gegebenheiten betreffen, um uns zu helfen, die nötige gute Arbeitsleistung zu erbringen“, weiß MS-Patienten Lanzinger. "In einem neu erbauten Gebäude kostet Barrierefreiheit so gut wie nichts - wenn man rechtzeitig daran denkt“, unterstreicht Hansjörg Hofer, Behindertenanwalt im Sozialministerium. Sollten Kosten anfallen, können sich Arbeitgeber Unterstützung holen: Das Bundessozialamt fördert Umbaumaßnahmen am Arbeitsplatz und bietet auch Lohnförderungen an, durch die eine eventuelle verminderte Leistung von kranken Arbeitnehmern ausgeglichen wird.

Falsches Bild von der Krankheit

Trotz aller Beteuerungen der Kammer sind Arbeitgeber in der Regel alles andere als erfreut, wenn ein Mitarbeiter an dem neurologischen Leiden erkrankt: In den meisten Fällen bedeutet es für Betroffene das berufliche Aus, wenn ihre MS-Erkrankung bekannt wird.

"Derzeit ist die Situation leider so, dass wir im Zweifelsfall raten, die Diagnose nicht bekannt zu geben“, bedauert Hensel. Es komme immer wieder vor, dass an MS Erkrankte ihren Arbeitsplatz verlieren, weil der Arbeitgeber zu wenig oder falsch über die Erkrankung informiert sei, berichtet die Geschäftsführerin der MS-Gesellschaft. "Es gibt Patienten, die schwer behindert sind“, stellt Vass klar: "Aber mit den heutigen Therapiemöglichkeiten nimmt die Erkrankung oft einen Verlauf, der mit einer normalen Lebensführung vereinbar ist.“ MS-Patientin Lanzinger liefert ein weiteres Argument, Erkrankte nicht aus dem Berufsleben zu drängen: "Verständnisvolle Arbeitgeber können mit hoch motivierten und loyalen Arbeitnehmern rechnen.“

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