Ein ganzer Fluss für die Agrarindustrie

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Mit einem Mega-Kanalprojekt soll Brasiliens zweitgrößter Fluss, der Rio São Francisco, umgeleitet werden, um neue Anbauflächen für den Agrarexport zu bewässern - zum großen Schaden der Anrainer des Flusses und der Umwelt.

An die 300 Personen haben sich in der Kirche "Jesus der Seefahrer" eingefunden. Der Name ist nur mehr eine traurige Erinnerung an frühere Zeiten, als der Rio São Francisco, nach dem Amazonas der zweitgrößte Strom Brasiliens, sein Flussbett noch bis zur Kirche hin ausdehnte. Heute erstrecken sich über 500 Meter vertrocknete Wiese bis zum Ufer des müde dahinfließenden Wasser des Flusses, der für eine Fläche von über 630.000 Quadratkilometer (soviel wie Frankreich, die Schweiz und Österreich zusammen) und für 13 Millionen Menschen die zentrale Lebensader darstellt.

Mit dem Mega-Kanalprojekt "Transposição" der brasilianischen Regierung soll der Fluss jetzt großräumig umgeleitet werden (siehe Kasten). Deswegen sind an diesem Freitag vor zwei Wochen die Menschen nicht zum Beten in die Kirche gekommen, sondern um Strategien zu entwickeln, wie dieses Umleitungsprojekt noch verändert werden könnte. Sie nehmen an der 30. Wallfahrt nach Bom Jesus da Lapa teil, einer Kleinstadt im brasilianischen Bundesstaat Bahía, und sie sind nur eine der acht Arbeitsgruppen, die verschiedene Aspekte des unheilvollen Projektes diskutieren. 1977 war diese Wallfahrt ins Leben gerufen worden, also noch zu Zeiten der Militärdiktatur, und von Anfang an stand sie im Zeichen der wichtigsten Forderung der Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer, die im Elend leben und ohne Einkommen: der Forderung nach eigenem Land, um wenigstens die überlebensnotwendigen Lebensmittel selber anbauen zu können.

Wallfahrt mit Sozialthema

Jedes Jahr widmet sich die Wallfahrt einem anderen Thema rund um die Landfrage. Heuer, unter dem Eindruck des bedrohlichen Megaprojekts der Regierung von Präsident Luiz Inacio da Silva Lula, der einst selbst zur sozialen Gruppe der Wallfahrer gehörte und als Kind die Folgen bitterster Armut erfahren musste, lautet das Motto: Land und Wasser, damit alle leben können. Über 6000 Menschen sind dem Aufruf vieler zivilgesellschaftlicher Gruppen und christlicher Basisgemeinden gefolgt und haben sich in Bom Jesus da Lapa versammelt.

Die einst den Seefahrern, die es heute am Rio São Francisco kaum mehr gibt, gewidmete Kirche platzt aus allen Nähten, viele Menschen müssen am steinernen Fußboden stehen oder sitzen. Der Vortragende, Samuel, ein 24-jähriger Agraringenieur, schildert die Verbindungen des Megaprojektes mit den Wirtschaftsinteressen der großen Unternehmen des Agrarexports und ihr Interesse an der Privatisierung des Flusswassers. Das nach derzeitigen Berechnungen 6,6 Milliarden Reais (rund 2,6 Milliarden Euro) teure Vorhaben, das u.a. den Bau von zwei langen Kanälen vorsieht, soll teilweise durch neu eingeführte Wassernutzungsgebühren von den Anrainern finanziert werden.

Samuel wird immer wieder von Zurufen aus dem Publikum unterbrochen, auf die er unverzüglich antwortet. Er selbst bittet die Leute, mit "Ja" oder "Nein" ihre Meinung zu seinen Äußerungen kundzutun.

"… im Kampf, im Kampf"

Eine Frau aus dem Publikum steht auf, meint, es sei nun Zeit für ein Lied, und stimmt eine populäre Weise an, bei der alle mitsingen: "Ich spüre die Gegenwart Gottes im Kampf, im Kampf, im Kampf …" Mindestens drei Viertel der Anwesenden sind Frauen jeden Alters. Eindrucksvoll die rhetorischen Fähigkeiten der Menschen. Frauen und Männer, denen ihre Lebensumstände nie eine höhere Schulbildung ermöglichten, präsentieren frei sprechend aus dem Stegreif oder mit Hilfe kleiner eng beschriebener Zettel die diskutierten Analysen und Appelle. Sie sagen, ihr Fluss gehöre gepflegt wie ein eigenes Kind und das bedeute auch, keine Abwässer hineinzuleiten.

Ein ungefähr 70 Jahre alter Landarbeiter, dem die Härten seines Lebens ins Gesicht geschrieben stehen, ruft zum Handeln auf: "Schon genug der Worte sind gefallen" - viel Applaus aus der Menge. Groß ist die Enttäuschung der Anwesenden über die Politik von Präsident Lula, der früher oft von der notwendigen Revitalisierung des Rio São Francisco gesprochen hat und nun, unter dem Einfluss des Agrobusiness, dieses Projekt auf Biegen und Brechen durchziehen will. Viele Leute im Publikum machen sich in kleinen Heften Notizen. Sie werden später in ihren Gemeinden von dem Treffen berichten.

Bischof im Hungerstreik

Die Ablehnung des Großprojekts, das zu Lasten der Anrainer-Bevölkerung die Exportgewinne weniger Unternehmen steigern soll, beschränkt sich aber bei weitem nicht auf die Teilnehmer dieser Wallfahrt. Schon im Oktober 2005 hat der Bischof von Barra aus dem Einzugsgebiet des Rio São Francisco in einer kleinen Kirche am Flussufer einen zwölftägigen Hungerstreik durchgeführt, den er erst abbrach, als ihm Präsident Lula persönlich versicherte, einen Dialogprozess mit der Zivilgesellschaft über das Umleitungsprojekt aufzunehmen. Es kam zu einigen Treffen mit Regierungsvertretern, die aber nur den Zweck hatten, zu beschwichtigen und Zeit zu gewinnen. Ende letzten Jahres erklärte ein Bundesrichter alle Einspruchsverfahren gegen das Projekt für hinfällig.

Vor wenigen Wochen, am Morgen des 26. Juni, fuhren zahlreiche Busse und Lastwagen in die Gemeinde Cabrobó im nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco, wo der Baubeginn eines der Umleitungskanäle unmittelbar bevorstand. Zusammen mit der indigenen Bevölkerung aus der Umgebung errichteten die Projektgegnerinnen und-gegner aus Holzlatten und Plastikplanen ein kleines Dorf, in dem sich 1500 Menschen versammelten, um gegen die Umleitung ihrer Lebensader, zu protestieren. Obwohl die großteils unternehmer-oder regierungsfreundlichen Medien die Protestaktion verschwiegen, geriet sie über einige wenige Zeitungen und das Internet dennoch in die Öffentlichkeit. Erst als am achten Tag die Zugänge zum Protest-Lager von Polizei-Einheiten gesperrt wurden und immer mehr Militär und Polizei eintraf, um einen richterlichen Räumungsbefehl durchzusetzen, beschlossen die Verantwortlichen des friedlichen Widerstands den Rückzug.

Selbst Weltbank dagegen

Sie wollen in Zukunft aber immer wieder mit spektakulären Aktionen die Öffentlichkeit auf die Brisanz des Megaprojekts aufmerksam machen. In diesem Widerstand sind eine Vielzahl von sozialen Bewegungen vertreten: die berühmte Landlosenbewegung MST, verschiedene Initiativen von Kleinbauern, Landfrauen, Afrobrasilianer und zahlreiche indigene Gruppen. Auch Bischof Cappio war anwesend, deshalb konnte er zum ersten Mal in 30 Jahren nicht an der Wahlfahrt nach Bom Jesus da Lapa teilnehmen, genauso wie der Bischof José Geraldo aus der Diözese Juazeiro.

Parallel zu den Aktionen im Inland versucht die Allianz der Umleitungsgegner nun auch im Ausland Unterstützung für ihr Anliegen zu finden. Selbst die Weltbank hat wegen der drohenden sozialen und ökologischen Schäden dem Projekt die Kreditwürdigkeit verweigert. Ein Protestbrief an die brasilianische Regierung kann im Internet auf http:// www.ewl-hueckelhoven.de unterzeichnet werden.

Der Autor ist Redakteur der Zeitschriften "Südwind" und "Lateinamerika anders".

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