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Gedanken zur Erweiterung Europas.

Wer sind eigentlich die Neuen?

Überall können wir lesen, dass im Mai 2004 weitere zehn Mitglieder in die Europäische Union kommen. Wir wissen eine Menge darüber, welche Probleme das bedeutet für den Transit, für die Freizügigkeit der Arbeitskräfte; wir wissen schon herzlich wenig, wer und wie die Nachbarn eigentlich sind.

Hier und da ist vom christlichen Abendland die Rede, man weiß auch von großen Traditionen. Man weiß davon, dass vor 1989 Christentum unterdrückt gewesen ist, es gibt einige Erinnerungen an große Schauprozesse wie den gegen Kardinal Mindszenty in Ungarn - aber wer diese Christen, die jetzt mit uns in der Union sind, genau sind, ist uns nicht bekannt. Sie haben ein bisschen eine andere Geschichte. Wäre es nicht einmal gut, hinzufahren und anzusehen, wie ein Pfarrleben aussieht, denn das ist auch Gemeinschaft. Gemeinschaft, sowie die Europäische Gemeinschaft. Nur äußert sich die nicht in Politikertreffen, sondern in den normalen Beziehungen zwischen Menschen. Ein bisschen Neugierde wäre eigentlich angesagt.

Wenn man dann neugierig ist, kommt man dann drauf, dass es natürlich große Unterschiede gibt, weil es historische Traditionen gibt auf der einen Seite - und auf der anderen Seite die Situationen, in denen die Menschen leben. Da wird man tiefen Glauben finden, aber auch die Spuren des Kommunismus, wo vieles ruiniert wurde und die Menschen einen neuen Weg finden müssen und überrascht sind, auf welche Weise der so genannte Westen zu ihnen gekommen ist. Drum sind sie auch manchmal sehr skeptisch. Vielleicht sollten wir ihnen dabei zuhören, weil das ein Skeptizismus ist, der eigentlich auch uns selber trifft.

Den anderen in seiner Sprache hören

Es ist oft davon die Rede, dass es nun in der Europäischen Union viele neue Sprachen gibt. In Wahrheit neue alte Sprachen. Man muss nur daran denken, wer von wo nach Österreich gekommen ist, quer durch die Jahrhunderte. In den Familiennamen ist das ja noch deutlich bemerkbar. Dann ist die Klage: Naja, jetzt müssen so viele Sprachen übersetzt werden. Andererseits ist eigentlich jeder stolz auf seine Sprache.

Aber ist das Sprachproblem nicht eigentlich ein anderes? Wir können durchaus eine Anleihe bei der Bibel nehmen, da spielt die Sprache eine Rolle: beim berühmten Turmbau von Babel - dass nämlich die Menschen einander nicht mehr verstehen konnten, weil sie versuchten, sich über Gott zu erheben. Das Ergebnis war dann, dass der Turmbau nicht vollendet wurde und sie einander nicht verstanden. Das ist ein Sinnbild für unsere Welt.

Das Neue Testament hat eine Antwort dafür parat, das ist das Pfingsterlebnis. Dort heißt es: ein jeder hörte den anderen in seiner Sprache reden. Der Heilige Geist ist kein Dolmetscher, sondern er ist eigentlich jemand, der einem Einfühlungsvermögen für den anderen gibt. Das ist mit der Sprache gemeint. Denn wir wollen jemandem etwas sagen, aber der andere möchte auch uns etwas sagen. Und er will verstanden werden. Das müssen wir ein bisschen üben, dass wir die anderen verstehen, weil wir ganz selbstverständlich auch von ihnen verstanden werden wollen.

Was der Faktor Heimat wert ist

Viele Besorgnisse gibt es im Hinblick auf unsere Nachbarn, z.B. dass jetzt jede Menge Arbeitskräfte kommen und Dumping am Arbeitsmarkt betreiben, d.h. billiger arbeiten, als das bei uns der Fall ist. Zum einen gibt es eine Menge von Regelungen, die das entsprechend kanalisieren, zum anderen müssen wir auch ganz ehrlich zugeben, dass so manche Arbeitskräfte kommen, die wir dringend brauchen, weil sich in diesen Bereichen niemand von uns mehr findet, diese Arbeit zu machen. Gehen Sie einmal in die Spitäler, dann werden Sie sehen, was ich meine: wer hier als Krankenschwester und Krankenträger tätig ist.

Aber in Wahrheit geht es um etwas ganz anderes: Es ist berechtigt, dass die Europäische Union mit allen möglichen Fonds diesen Ländern zahlt (notabene, es ist ohnehin nicht sehr viel, es hat bei früheren Erweiterungen mehr gegeben). Warum: Um den Menschen die Möglichkeit zu schaffen, unserem Lebensstandard ein wenig näher zu kommen. Dann will man auch nicht mehr weggehen, weil man seine eigene Zukunft im eigenen Land sieht. Wir haben das untersucht: In den achtziger Jahren kamen zweieinhalb Millionen Polen nach Deutschland und Österreich. Von denen sind eineinhalb Millionen wieder zurückgegangen. Und zwar dann, wenn sie etwa 60 bis 70 Prozent von dem verdienen können, was sie bei uns verdienen. Seit dem wissen wir, was der Faktor Heimat wert ist: nämlich 30 bis 40 Prozent weniger Einkommen.

Ist es dann nicht berechtigt, etwas zu tun, um die so genannten Strukturen, sprich die Lebensbedingungen der Menschen in diesen Ländern, zu verbessern. Ich glaube, da gibt es so etwas wie eine europäische Verpflichtung - und für Christen kann man das eigentlich unter Nächstenliebe abbuchen.

Kulturelle Beiträge zu einem Europa

Wie wir über Europa sprechen, ist auch immer von der Vielfalt die Rede, kultureller Vielfalt. Ganz offen gestanden, das ist ja das, was Europa eigentlich spannend macht. Gerade wir in Österreich, wenn wir 100, 200 oder 300 Kilometer fahren, dann nehmen wir Landschaften wahr, die unterschiedlich geprägt sind - aber auch gewissermaßen ähnlich. Wir sehen da und dort eine Pestsäule oder Dreifaltigkeitssäule, wir sehen den guten Nepomuk auf Brücken, Barockkirchen und ähnliches. Es ist also eine gewisse Gemeinsamkeit da, wo wir eigentlich voneinander profitiert haben.

Überlegen Sie sich einmal, wie die Tanzmusik in Österreich aussähe, wenn es nicht die Polka, die Mazurka, den Csárdás gäbe. Das sind ganz selbstverständliche Dinge, die bei uns zu Hause sind; und wenn Sie die Speisekarte durchgehen: das Gulyás, der Brimsen, der Liptauer oder der Quargel - das sind ja alles Beiträge zu einem gemeinsamen Mitteleuropa. Lachen Sie nicht, aber beim Essen kommen die Leute zusammen - und das zeigt sich sehr deutlich. Und noch deutlicher erleben Sie es in der Kultur. Was wäre die Musik ohne die wechselseitigen Einflüsse? Da schwingt auch das Herz mit, weil Musik das Herz öffnen kann. Vielleicht ist das ein Weg, den anderen finden zu können, denn Musik braucht keine Übersetzung. Es ist eine Sprache. Ob es sich nun um Tanzmusik handelt, Marschmusik oder höhere symphonische Werke - da ist unendlich viel Gemeinsames in diesem Europa zu Hause, das wir auf gewisse Weise wieder entdecken müssen. Stolz allein sein, dass wir kulturell so bedeutend sind, ist zu wenig. Zu wissen, woher es kommt und mit wem es entwickelt wurde, das ist schon gut.

Erweiterung der Herzen und Hirne

Vom polnischen Autor Stanislaw Jerzy Lec gibt es den wunderschönen Satz: "Die Zunge reicht weiter als die Hand." Was meint er damit? Doch nicht jemandem die Zunge zeigen, nein, im Gegenteil, er meint die Sprache. Die Sprache als eine Vermittlung eines Verständnisses menschlicher Situationen. Und wenn wir das durchsehen, was Literatur ist, dann merken wir sehr deutlich, wie wichtig die Sprache hier ist. Kafka, Werfel oder Molnár - es gibt eine lange Liste von Autoren, die wir ganz selbstverständlich für uns vereinnahmen -, sie alle kommen aus dem Raum dieser Beitrittsländer.

Es ist in Wirklichkeit eine Rückkehr, es ist nicht eine Osterweiterung, sondern es ist eine Erweiterung in der Mitte Europas und hoffentlich auch eine Erweiterung der Hirne und der Herzen. Da gehört die Kenntnis dessen dazu, woher sehr viele kommen, die dieses Bild auch unseres Landes geprägt haben. Übrigens, wussten Sie, dass in der letzten Zeit zwei bedeutende Werke über die Donau geschrieben wurden? Eines ist vom Triestiner Claudio Magris, das andere ist von Péter Esterházy, einem Ungarn. Sie merken, wie ein Fluss ein gemeinsames Band sein kann. Sie merken, wie die Sprache ein gemeinsames Band sein kann - und jetzt fehlen eigentlich nur mehr wir dazu.

Ich glaube, wir brauchen nicht auf die Landkarte schauen, was da größer geworden ist, sondern wir haben im Inneren mehr Gemeinsamkeit. Da müssen wir einiges dazu tun, manche Einstellungen müssen eben geändert werden, aber es ist möglich, weil es das schon sehr oft gegeben hat. Überhaupt keine Nostalgie, sondern eine europäische Wirklichkeit, von der wir alle profitieren. Europa ist nicht nur eine wirtschaftliche Größe, sondern auch ein geistig-kultureller Kontinent. Das müssten Christen eigentlich wissen, denn Christus war nie eine ökonomische Größe, sondern war eine Einheit der Menschen im Herzen und im Glauben.

Der Autor ist Koordinator des Balkan-Stabilitätspaktes.

Der Text gibt die in dieser Woche laufenden "Gedanken für den Tag" (Dienstag bis Samstag, 6 Uhr 57, ORF-Radio Ö1) wieder.

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