"Ein Kind hat 100 Sprachen"

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Frühkindliche Sprachförderung steht im Zentrum politischer Debatten. Experten verweisen auf die Chancen von Mehrsprachigkeit.

Sprache ist das Haus des Seins" - dieses Zitat Martin Heideggers stellte die diesjährige Internationale Pädagogische Werktagung Salzburg ihrem Programm voran. Tragende Begriffe, die noch nicht von populistischen Forderungen wie "Die sollen endlich Deutsch lernen", "Hier wird Deutsch gesprochen, alle anderen Sprachen wollen wir auf dem Schulhof nicht hören" in Frage gestellt wurden. Sprache als Haus des Seins scheint heute mehrere Etagen zu haben: Mehrsprachigkeit, Migration und Sprachenpolitik rücken ins Zentrum der politischen Diskussionen.

Im Rahmen der Fachtagung stellten Experten - Sprach- und Erziehungswissenschafter, Theologen, Autoren und schließlich die Zielgruppe der Pädagogen selbst - eindeutig fest, dass es weder die Sprache, noch die Migranten und daher auch nicht die Lösung der Frage nach sprachlicher Förderung und Integration von Migranten geben könne und dürfe.

Sprache als Zaubercode?

"Sprachförderung von Migrantenkindern erscheint eine Art Zaubercode für die Lösung vieler gesellschaftlicher Probleme - Integrationsprobleme von Migranten, schlechte PISA-Ergebnisse und auch Gewalt an Schulen - geworden zu sein. Mit hoher politischer Aufladung wird in der Folge das Thema der Sprachförderung diskutiert", kritisiert Erziehungswissenschafterin Renate Thiersch (siehe Interview) aus Tübingen die Situation in Deutschland.

Sie warnt aber vor vorschnellem Aktionismus, vielmehr müssten pädagogische wie linguistische Reflexionen die Grundlagen der weiteren Entwicklung der Sprachförderung im Kindergarten liefern. "Vielen Pädagogen und Experten fehlt hier die Artikulationsfähigkeit in der Öffentlichkeit, viel Expertenwissen erreicht daher die Politiker nicht. Damit unser Wissen und unsere Erfahrung endlich politisch wirksam werden, müssen wir effizienter als bisher überlegen, wie unsere Ideen an die Adressaten, u.a. die Politiker, gelangen, Politikerschelte mag ja entlasten, löst aber das grundsätzliche Problem nicht", analysiert die Wissenschafterin das Gefühl der Ohnmacht angesichts der derzeitigen Sprachförderungsdiskussionen durchaus selbstkritisch.

Die Entwicklungspsychologin Gisela Szagun aus Oldenburg entwickelt in ihrer Betrachtung des Spracherwerbs eine heitere Gelassenheit: "Kinder lernen die Sprache aus dem sprachlichen Angebot in ihrer Umwelt. Es ist normal, dass Kinder sich sehr stark in der Schnelligkeit des Spracherwerbs unterscheiden. Die Sprache Erwachsener ist besonders dann hilfreich, wenn sie den Themen des Kindes folgt und unvollständige Äußerungen erweitert."

Wie aber Mehrsprachigkeit fördern? Die Kindergartenpädagogin Monika Jurk brachte ihre persönliche und berufliche Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit ein. Sie lebt im sächsischen Radibor und ist mit Deutsch und Sorbisch aufgewachsen: "In der Familie haben wir nur sorbisch gesprochen, später kam dann Deutsch dazu. Ich bin spielerisch und eigentlich ganz nebenbei mit der deutschen Sprache aufgewachsen." Sie erinnert sich daran, dass sie als Kind in Sorbisch dachte, das Gedachte aber auf Deutsch aussprach. "Es gibt leider kaum sorbische Lieder oder Bilderbücher, die den heutigen Lebensweisen entsprechen," beklagt die Kindergartenpädagogin und zeigte sich erstaunt, dass das Thema "Minderheitensprachen" so selten angesprochen wird: "Dass das Problem der Migrationssprachen als so akut gesehen wird, war mir nicht bewusst; ich selbst habe meine Zweisprachigkeit stets als Bereicherung empfunden." Jurks Tochter ist aus der Lausitz nach Köln wegzogen, was bei der Mutter Sorge über den Fortbestand der Sprache hervorruft. "Wenn eine Sprache nur mehr verbal, also ohne Schrift, weitergegeben wird, ist das für mich ein kleines Todesurteil. Noch aber haben wir zweisprachige Ortstafeln, Theater und Zeitungen in beiden Sprachen, das ist ein großer Reichtum."

Eigene Erfahrungen mit Sprachenlernen brachte auch die bekannte japanische Autorin Yoko Tawada ein: "In der Schule habe ich in Japan Deutsch gelernt; als ich nach Deutschland kam, konnte ich zwar Bücher auf Deutsch lesen, aber ich konnte die Sprache nicht sprechen. Ich habe dann in einem Büro gearbeitet und im Alltag die Sprache gelernt."

Wenig Zeit für Abendkurse

Yoko Tawada hat viel Zeit und Energie in Sprache und Schreiben investiert: "Das ist aber meine Arbeit, ich bin Schriftstellerin. Viele Migranten arbeiten acht Stunden am Tag, danach haben sie noch für ihre Familien zu sorgen. Am Abend sind auch sie müde, wie die Deutschen, die auch nicht alle begeistert in Abendkurse gehen, um eine für sie neue Sprache zu lernen. Das ist für viele von ihnen schwierig, besonders dann, wenn sie das Lernen nicht gelernt haben."

Weltweit gesehen sei Mehrsprachigkeit vor Einsprachigkeit das häufiger anzutreffende Phänomen und das Beherrschen mehrerer Sprachen stehe doch in der Tradition des europäischen Bildungsbürgertums, gibt die Autorin zu bedenken. Dennoch würden Kinder mit Migrationshintergrund pauschal über eine Defizitsituation "kann schlecht Deutsch" definiert und nicht über ihre Potenziale "bringt eine neue Sprache in den Kindergarten".

"Ein Wort, ein Ort", so überschrieb Yoko Tawada ihren Vortrag und entsprach mit dieser Poesie durchaus gesellschafts-wie sprachpolitisch einem generellen, über tagespolitische Diskussionen hinausgehenden, Gedanken der Tagung: "Ein Kind hat hundert Sprachen".

http://pwt.kirchen.net

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