Ein Kurzes JAHR

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Vor einem Jahr wurde die türkisblaue "Wenderegierung" angelobt. Seither hat sich vieles verändert. Nicht zuletzt der vielzitierte "Stil": Die Regierung trägt ihre Konflikte weitgehend diszipliniert intern aus - und kontrolliert mittels ebenso vielzitierter "Message Control" rigide die Kommunikation nach außen. Die FURCHE blickt mit diesem Schwerpunkt in die Zukunft - und lässt das vergangene Jahr Revue passieren. U. a. mit zwei -sehr unterschiedlich ausfallenden -Bilanzen des ersten Regierungsjahres: Jener des Soziologen Manfred Prisching auf S. 3 -und jener des Philosophen Peter Strasser auf S. 6. (tsch)

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Vor einem Jahr wurde die türkisblaue "Wenderegierung" angelobt. Seither hat sich vieles verändert. Nicht zuletzt der vielzitierte "Stil": Die Regierung trägt ihre Konflikte weitgehend diszipliniert intern aus - und kontrolliert mittels ebenso vielzitierter "Message Control" rigide die Kommunikation nach außen. Die FURCHE blickt mit diesem Schwerpunkt in die Zukunft - und lässt das vergangene Jahr Revue passieren. U. a. mit zwei -sehr unterschiedlich ausfallenden -Bilanzen des ersten Regierungsjahres: Jener des Soziologen Manfred Prisching auf S. 3 -und jener des Philosophen Peter Strasser auf S. 6. (tsch)

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1. Unmittelbar nach dem Krieg gab es Erschütterung, Schuldbewusstsein, Verdrängung. Ab den 1960er Jahren Fortschritt, erwachenden Wohlstand, Fernsehen, Lignano. Die wesentlichen politischen Kräfte haben sich arrangiert: Akzeptanz der Marktwirtschaft (statt quasi-sowjetischer "Systemveränderung") im Tausch gegen reichliche Umverteilung und soziale Sicherheit. Sozialpartnerschaft: eine gemeinsame Logik (trotz Interessengegensatz) von Kapitalseite und Arbeiterschaft. Eine vage Sozialdemokratisierung quer durch alle Parteien, mit segensreichen Maßnahmen. Am Ende des Jahrhunderts der Niedergang, schließlich der Zusammenbruch des Ostblocks und der das 20. Jahrhundert beherrschenden geopolitischen Ordnung. Globalisierung und Sichtbarkeit der Welt: Österreich ist endgültig keine "Insel" mehr. Aber ein Luxusland.

2. Soziale Bewegungen der 1960er/70er Jahre haben vom großen Umbruch geträumt: Der imaginäre Systemwandel blieb Illusion, immerhin fand eine langsam durchwirkende Kulturrevolution statt. Sie fand ihren Ausgang in der Popkultur, plädierte für den Ausbruch aus dem Mainstream, Bewegung, Freiheit. Pille und sexuelle Befreiung. Aufstieg der Frauen. Kaum zu überschätzen: die Bildungsrevolution. Das Bildungssystem wurde vom Instrument der Ausschließung und Distinktion zum Instrument der Teilhabe und der Einbeziehung peripherer Gruppen in die allgemeine Dynamik -eine Erfolgsgeschichte.

3. Es folgte eine popkulturelle Durchdringung der Politik, eine quasiintellektuelle Ästhetisierung und Simulierung der Welt, mit der die Arbeiterschaft nichts mehr anfangen konnte, und eine Multikulturalisierung der Perspektive, bei der das Misstrauen der Mittelschicht rapide wuchs. Politischen Institutionalisierungen neben den Großparteien war in dieser Zeit jedoch nicht viel Erfolg beschieden. Liberale, Stronach, Grüne, Pilz, Neos -beinahe alle mit starker Selbstzerstörungskapazität, was nichts Gutes verheißt für das mögliche Tragen von Verantwortung. Der Haider-Effekt schuf immerhin eine dritte Kraft -und verschlechterte den politischen Stil.

4: Auftritt Kurz 2011/13 -ein sehr Junger, alle zweifelten mit guten Gründen, ob er es "kann". Sie hatten Unrecht: keine eklatanten Fehler, beeindruckende Selbstdisziplin, unerschütterliche Freundlichkeit. Dann die verwirrende Lage 2017: Der jetzige Bundeskanzler hat einen einfachen Sachverhalt klar erkannt. Das entscheidende Thema in ganz Europa (und darüber hinaus) war Migration. Die großen Parteien haben weggeschaut, sie haben es den Freiheitlichen (bzw. anderen einschlägigen Gruppierungen quer durch Europa) überlassen. Aber alle Umfragen zeigten: Es ist DAS Thema. Der Youngster hat sich auf dieses Thema daraufgesetzt, es den Freiheitlichen weggenommen. Und war bei den Wahlen erfolgreich. Eigentlich sollte diese Erfahrung eine demokratische Irritation bei den anderen Parteien auslösen, die lange Zeit für die "offene Grenze" waren: 70 Prozent der Europäer wollen das nicht. Man braucht ein robustes "menschenrechtliches" Bewusstsein, dass einem der demokratische Wille derart egal sein kann. Da man das uneinsichtige Volk nicht auflösen und neu wählen kann, verweist man auf dessen Aufklärungsnotwendigkeit -und meint so etwas wie Umerziehung.

5. Nach der Wahl wollte die SPÖ nicht mehr mitregieren, sie war beleidigt. Die anderen Parteien waren zerbröselt. Es kam Türkis-Blau. Ausbruch aus einer rot-schwarzen Sklerose, nun aber die Mühen des Regierens: Jetzt kommen neben der Migration auch die anderen Themen ins Spiel. Erstaunen im Publikum: Kurz scheitert auch als Kanzler nicht, er bleibt freundlich, projektorientiert, vorsichtig. Nicht aus der Reserve zu locken, auch nicht mit den gemeinsten Fragen. Das macht ihn sogar ein wenig undurchschaubar. Allzu viel "Horizont" kann er nicht haben, das ging sich biographisch nicht aus; aber er ist offenbar in der Praxis extrem lernfähig. In diesem Jahr wurden Themen angegangen, die seit Jahrzehnten folgenlos in allen Programmen verkümmmert sind. "Message Control" in der Regierung ist zwar Erholung vom vorherigen Chaos-Geschwätz-Desaster, lässt aber manche Minister beinahe von der Bildfläche "verschwinden". Auf manche Themen warten wir noch: Umweltpolitik ist mehr als Plastiksackerl. Immerhin war das Jahresprogramm durchaus beachtlich: Sicherheit, Familienförderung, Abgabenentlastung, Arbeitszeitflexibilisierung, Deutsch vor Schuleintritt, Universitätsfinanzierung, Sozialversicherung. Kürzung von Integrationsaufwendungen ist immer dumm, auch bei temporärer Schutzgewährung. Ein paar Ablenkungs-Irrationalitäten: Rauchen, 140 km/h, Pferde. Und ein größerer Patzer: BVT. 6. Es gibt neue politische Balanceakte. Die ÖVP versucht sich in ungewohnter Selbstbeherrschung. Der Regierungspartner wird gut behandelt, auch das war man nicht gewohnt. Die Spitzen der FPÖ sind (aus reinem Machterhaltungsinteresse) glaubwürdig im Versuch, die alten Flecken hinter sich zu lassen, im Wandel vom Stammtisch zum Staatsmann. Aber zum einen ist in der FPÖ nun einmal von alters her viel "autoritäres Potenzial" in den Rängen zu finden -deshalb permanent die Ausrutscher, die blubbernden Blasen. Zum anderen muss da und dort der Wählerklientel eine Kleinigkeit zugeworfen werden, auf der Klaviatur der traditionellen Anti-Muslim-Pro-Heimat-Melodie -deshalb permanent die kleinen symbolischen Antiflüchtlingsgesten, die ebenso vielen Leuten sympathisch wie unsympathisch sind.

7. Die UPIs (das urban-progressiv-(quasi) intellektuelle Milieu: Künstler, Journalisten, Quasi-Wissenschaftler, "Freischwebende") sind nach wie vor all-aktiv. Das den "Rechten" zugeschriebene "Vernadern und Verhetzen" findet mitunter mit deutlich höherer Sprachgewalt auf der "linken" Seite statt. Jammerei, dass die Solidarität seit dreißig Jahren abnehme -obwohl fast immer sozialdemokratisch geführte Regierungen an der Macht waren. Sorge um die Demokratie -deshalb demonstriert man gegen ein Wahlergebnis. Berührtheit über die Verrohung der Sprache -wo man auf der eigenen Seite doch bloß die Sager über "Arschlöcher" und dergleichen beklatscht. Angst um Rechtsstaatlichkeit - was einen nicht hindert, ad-hoc-Entscheidungen zugunsten von Flüchtlingen einzufordern. Linkspopulismus ist eben das genaue Spiegelbild von Rechtspopulismus.

8. Die SPÖ kommt unter der neuen Führung möglicherweise aus ihren demokratiegefährdenden Neigungen (Internet-Malversationen im Wahlkampf) wieder heraus. Die Gewerkschaften hatten auch schon Zeiten, in denen sie demokratisches Bewusstsein aufgewiesen haben -Demonstrationen und Streiks, die veranstaltet werden, weil einem die Regierung nicht passt, gehören nicht in den Kanon. Ansonsten spielt man in der Sozialdemokratie weitgehend schlichten Etatismus, also "alte Politik". Mehr soziale Gerechtigkeit heißt in dieser Gedankenwelt: Der Staat soll zahlen -und das wird angeblich nicht bei der Wählerschaft kassiert, sondern es zahlen (jenseits aller Kenntnisse über Grundrechnungsarten und Wirtschaftsmechanismen) die "Konzerne".

9. Die Grünen schauen nach Deutschland. Dort sind ökologisch engagierte Pragmatiker erfolgreich -für Wien beherzigt man das nicht. Es wird für das Parlament reichen, aber das war es dann wohl. Der Bundespräsident macht grün-linksliberale Politik, aber man kann wenigstens darauf vertrauen, dass er auch sonst keinen Unsinn sagt oder tut. Das passt schon, auch als Gegengewicht.

10. Die Medien tun sich schwer mit der Regierung. Man sucht Zwiespalt, und er wird vermieden. Man ist an Gegeneinander-Ausspielen gewöhnt, und es funktioniert nicht. Man versteht bewusst falsch, und kein Akteur steigt ein. Am Ende muss man gar noch über Politik berichten.

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