Ein Land versinkt in Unschuld

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So viel Unschuld war noch nie: Die Unschuldsvermutung grassiert, taucht in Medien und öffentlichen Beteuerungen auf. Dies ist eine Zumutung, die wir noch länger zu ertragen haben werden - zu viel an noch ungeklärter Schuld schwebt über Österreich, während das Land in einer Flut an Bekräftigungen und Versicherungen von Unschuld zu versinken droht.

Dass es so weit kommen konnte, ist den leichtfertig verbreiteten Vorwürfen aller Art, die Politik und Journalismus so von sich geben, zuzuschreiben.

Rechtlich betrachtet hat jeder Mensch als unschuldig zu gelten, solange er nicht rechtskräftig von einem ordentlichen Gericht beziehungsweise dem gesetzlichen Richter verurteilt ist. Weil aber die Öffentlichkeit nach Urteilen zu gieren scheint, noch ehe die Gerichte gesprochen haben, weil zudem der Verdächtigten Anwälte Berichte zu verhindern trachten, war in Medien stets an die Unschuldsvermutung zu erinnern. Hier haben sich inzwischen Überdruss und Unwirksamkeit eingestellt.

Lediglich eine befreiende Floskel

Juristen halten die Erwähnung der Unschuldsvermutung in Medien, noch dazu am Ende des jeweiligen Berichtes, für eine lediglich von medienrechtlichen Folgen schuldbefreiende Abwehrfloskel. Das trifft zu. Die Judikatur hat längst darauf erkannt, dass auf den gesamten Zusammenhang des jeweiligen Berichtes zu achten ist - sollte dieser Schuld nahe legen, so ist die Unschuldsvermutung an dessen Ende wahrlich nur eine Floskel. Diese haben sich vermeintlich findige Journalisten als Ausdrucksmittel besonderer Art zu eigen gemacht: Selbst wenn es nicht um Straf-, sondern um Zivilrechtliches geht, etwa um eine zur Fälligkeit noch beglichene Rechnung, so erwähnen sie - angeblich zugunsten des Zahlungspflichtigen - die Unschuldsvermutung. Die dort nichts verloren hat. Aber so hält die Unschuldsvermutung ihren Einzug zumindest in der boulevardesken Form von Zivilrecht. Und erfüllt dort den gleichen Zweck wie zuvor: Wo die Unschuldsvermutung auftaucht, muss am Grunde des tiefen Wassers doch die Frage nach der Schuld liegen. So viel an Dialektik verträgt sogar das manchmal sehr schlichte Vermittlungsverständnis des zur Unentgeltlichkeit verkommenen Billig-Journalismus. Doch die Verstimmung darüber wiegt weniger schwer als ihr Auslöser, nämlich die vielen fragwürdigen Vorgänge in und an den Schnittstellen von Politik und Wirtschaft, in Banken und in den Ländern.

Das Unrechtsbewusstsein schwinde, beklagen sogar Strafverteidiger, damit auch die Gesetzestreue. Ursache dafür seien Politiker, etwa Finanzminister, die als Steuerzahler ein schlechtes Vorbild abgäben.

Für Regeln gilt, sie zu umgehen

Damit sind wir, so scheint es, über kurzen Weg im Zentrum des Problems angekommen: Die gesellschaftliche Übereinkunft hinsichtlich der gemeinsamen und geltenden Regeln scheint eben nicht darin zu bestehen, sich korrekt an diese zu halten. Nein. Man sucht nach Ausnahmen, nach spezifischen und individuellen Möglichkeiten der Anwendung, nach Umgehung oder Aussetzen, je nach Gusto, Bedarf oder Strategie. Stiftungen und Konten im Ausland, nützliche Hinweise auf Kurse und Preise - es wird der breiten Öffentlichkeit geradezu lehrbuchartig vorgezeigt, wie man Regeln aushebeln und daraus Vorteile für das Eigene ziehen kann. Das schlägt sich nieder in Schwarzarbeit und sonstiger Steuerhinterziehung, in taktischem Krankenstand und in frisierten Bilanzen. Die Abwandlung der Henne-Ei-Debatte ist müßig: Machen es die Eliten vor oder geht Österreichs Korruption vom Volke aus?

Wesentlich ist: Macht und Möglichkeiten stiften Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft, nicht aber Berechtigung zur individuellen Bereicherung. Das scheinen einige nicht verstanden zu haben. Darum halten sie sich auch für unschuldig.

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