Ein Land, wo alles möglich ist

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In Israel verfällt Jude, Christ wie Moslem dem eigenen Wahn.

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In Israel verfällt Jude, Christ wie Moslem dem eigenen Wahn.

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Mit Angelika Schrobsdorff reisen wir durch Zeit und Raum vom Deutschland zur Zeit des Zweiten Weltkrieges in das heutige Jerusalem. Wir erleben dabei ein Stück Geschichte der bis heute am meisten umkämpften Stadt und die Geschichte einer Frau, der Autorin, die nach langer Suche dort ihre Heimat findet. In Freiburg im Breisgau wurde sie geboren, seit 1983 lebt sie in Israel. Doch bevor die Suche erfolgreich endet, sehen wir uns in Bulgarien gefangen und suchen mit der Autorin ihre Wurzeln im wieder aufgebauten Berlin. In autobiographischen Kurzgeschichten bietet sie uns Einblicke in ihr Leben, ihre Familie, ihren Freundeskreis. Aber sie lässt nicht viel mehr zu als nur Einblicke. So sehr jede einzelne der Geschichten den Leser fesselt, so unabhängig bleiben sie voneinander, jede für sich. Unvermeidlich bleibt die Frage im Raum stehen, wer Angelika Schrobsdorff ist. Die Autorin wollte diese Frage offensichtlich nicht beantworten. Hätte sie es wollen, hätte es ihr an den literarischen Mitteln gewiss nicht gefehlt, ebenso wenig am Atem für eine große Autobiographie. Sie zog es vor, wunderbare, sehr persönliche Geschichten zu erzählen.

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges flüchtet sie, damals noch ein kleines Kind, mit ihrer jüdischen Mutter aus Deutschland nach Bulgarien. Der katholische Vater bleibt zurück. Die Umstellung vom gutbürgerlichen Leben in Berlin auf das karge bulgarische Landleben fällt der Familie nicht leicht. Eher am Rande erfahren wir, dass die junge Frau durch die Heirat mit einem amerikanischen Soldaten das kommunistische Land verlassen hat. Einige Zeit lebt sie in Paris, auch in Deutschland. In Berlin versucht sie ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, aber die Stadt, die sie vor dem Krieg gekannt hat, existiert nicht mehr.

In den neuen Straßen findet sie sich kaum zurecht. Die Häuser, in denen sie aufwuchs, sind zerstört. Einzig ihre Vergangenheit verbindet sie mit der Stadt. Heimisch wird sie nirgends, bis zu ihrer ersten Reise nach Jerusalem. Dem Charme dieser Stadt verfällt sie sofort. Den Mythos, den sie schon als Kind erfuhr, meint sie dort zu finden. Hier glaubt sie ihre Wurzel gefunden zu haben. Hier ist Heimat.

Die Erzählungen zeigen den langen Weg bis zum Umzug nach Israel. Einen einheitlichen Charakter haben nur die Beschreibungen Jerusalems, doch auch hier lässt sich nicht immer zuordnen, wann diese oder jene Erfahrung gemacht wurde. Auf diese Weise ist jede Kurzgeschichte in sich abgeschlossen.

Mit viel Liebe wird die Bevölkerung Israels gezeichnet. Die orthodoxen Juden, durch deren Viertel die Autorin gerne spaziert, werden ebenso beschrieben wie die Probleme der Palästinenser. Bewegt schildert sie das erste Weihnachten im autonomen Palästina. Mit einer Freundin feiert sie Stille Nacht in Bethlehem, an einem Tag, an dem sich im Freudentaumel Christen, Moslems und Juden finden und alle Konflikte weit entfernt scheinen. Wie weit der Weg zu einem bleibendem Frieden noch ist, verdeutlicht Angelika Schrobsdorff in der Erzählung über einen jungen Palästinenser, der unter Verfolgungswahn zu leiden beginnt: "Alles war möglich in diesem Land, in dem christliche Touristen dem religiösen Wahn, Israelis dem Größenwahn und Palästinenser dem Verfolgungswahn verfallen."

Von der Erinnerung geweckt. Angelika Schrobsdorff. Dtv, München 1999. 238 Seiten, Tb., öS 190/e 13,81

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