„Ein Spiel mit Ängsten der Eltern“

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Der Kinderarzt und Autor Remo Largo über den Klassenkampf im Bildungswesen und das – für ehrgeizige Eltern – besonders bittere Phänomen „Regression to the Mean“. Das Gespräch führte Doris Helmberger

„Das Gras wird nicht länger, wenn man daran zieht“ lautet die Philosophie des Schweizer Kinderarztes Remo Largo. Im FURCHE-Interview spricht der 67-jährige Erfolgsautor („Babyjahre“, „Kinderjahre“ und zuletzt „Schülerjahre“) über elterlichen Förderwahn.

Die Furche: Herr Largo, unter Experten wie Eltern scheint es zwei gegenläufige Schulen zu geben, was die Förderung von Kindern betrifft: Die einen sprechen von „Zeitfenstern“, die man etwa zum Sprachenlernen nützen müsse; die anderen propagieren: Lasst doch die Kinder einfach im Wald spielen … Welcher Schule hängen Sie eher an?

Remo Largo: Es ist schon so: Wenn Sie mit Kindern in den Wald gehen, wird ihnen nie langweilig. Das ist der einzige Ort, den ich kenne, wo die Kinder sich wohl fühlen und endlos beschäftigt sind. Auch das bestausgerüstete Kinderzimmer schafft das nicht. Bis vor etwa 200 Jahren sind die Kinder in der Natur aufgewachsen, und das hat Spuren hinterlassen, die wir einfach nicht wahrhaben wollen. Was nun die These vom Zeitfenster zum Sprachenlernen betrifft, so stimmt sie insofern nicht, als diese Phase bis in die Pubertät reicht. Das sieht man im Kindergarten und in den ersten Schuljahren: Wenn Kinder einer Sprache exponiert werden, dann lernen sie sie relativ rasch. Die Voraussetzung ist allerdings, dass die Kinder Sprache nicht nur hören, sondern auch erleben in Handlungen, Personen und Situationen. Den Kindern Englisch beibringen zu wollen wie in einem Kurs für Erwachsene, ist nicht kindgerecht.

Die Furche: Viele Eltern sind einfach von der Sorge getrieben, dass ihre Kinder den hohen Anforderungen der Arbeitswelt nicht mehr entsprechen könnten. Schon jetzt wird etwa von jungen Leuten ja erwartet, dass sie drei und mehr Fremdsprachen beherrschen …

Largo: Das ist eine Art Klassenkampf im Bildungswesen: Es geht darum, das Kind schon in den ersten Lebensjahren möglichst gut zu positionieren, damit es dann obenauf schwimmt. Das Problem ist aber, dass man Kinder nicht beliebig fördern kann. Es gibt keine Studie, die zeigt, dass es sich dann besser entwickelt. Hier handelt es sich nur um ein Spiel mit den Ängsten der Eltern – mit einem kräftigen ökonomischen Faktor. Diese Kurse sind ja oft sehr teuer. Was die Kinder in den ersten fünf Lebensjahren aber in erster Linie erfahren müssten, wäre eine ganz normale Umgebung, also Natur und vor allem andere Kinder.

Die Furche: Genau diese Rahmenbedingungen können die Eltern ihren Kindern aber immer weniger bieten. Wie sollen sie damit umgehen?

Largo: Sie sollen jedenfalls dafür sorgen, dass ihr Kind mit anderen Kindern zusammenkommt, jeden Tag mindestens drei Stunden. Wenn sie das in der eigenen Familie schaffen, dann ist das gut. Wenn nicht – und mit durchschnittlich 1,4 Kindern pro Familie ist das oft nicht möglich – dann würde ich eine Krippe empfehlen. Kinder aus Kleinfamilien sind mit fünf Jahren weniger weit als Krippenkinder – wobei die Krippe qualitativ hinsichtlich Betreuungsschlüssel, Gruppengröße und so weiter gut sein muss. Zum anderen müssen die Eltern aber auch mit sich selbst ehrlich sein – vor allem in Bezug auf die Zeit, die sie mit den Kindern verbringen. Zeit ist etwas vom Kostbarsten, was Eltern ihren Kindern geben können.

Die Furche: Das heißt: Die Mama spielt zwar das Taxi vom Ballett zur Geigenstunde, widmet sich selbst dem Kind aber zu wenig?

Largo: Es geht einfach darum, dass sie das Kind in ihre Aktivitäten miteinbezieht. Und wer hier vor allem gefragt wäre, ist der Vater. Doch wenn man schaut, wie viel Zeit die Väter unter der Woche mit ihren Kindern verbringen, bewegt sich das leider im Minutenbereich.

Die Furche: In Ihrem jüngsten Buch „Schülerjahre“ (siehe Kasten) findet sich ein Schaubild, das für ehrgeizige Eltern besonders bitter ist: Es zeigt das Phänomen „Regression to the Mean“, die Rückentwicklung jeder Generation zum Mittelmaß. Was ist genau darunter zu verstehen?

Largo: Dieses Phänomen kennt man schon seit 200 Jahren. Ein Statistiker hat untersucht, wie die Größe von Eltern und Kindern zusammenhängen. Und er hat Folgendes festgestellt: Je mehr die Eltern vom Mittelwert abweichen, desto mehr tendieren die Kinder zur Mitte. Dass Einstein nochmals Kinder hat, die gleich klug bzw. noch klüger sind als er selbst, war demnach extrem unwahrscheinlich. Sie waren wohl klug, aber nicht mehr in dem Ausmaß wie ihr Vater. Das gilt aber genauso für Eltern, die unter dem Durchschnitt sind. Hier ist es tendenziell so, dass ihre Kinder relativ gesehen besser abschneiden. Akademikereltern oder sehr hoch positionierte Eltern müssen damit rechnen, dass 40 Prozent ihrer Kinder nicht mehr diese Stellung erreichen werden. Tatsächlich versuchen aber viele dieser Eltern, ihre Kinder zum Abitur und später zum Hochschulabschluss zu drängen.

Die Furche: Sie selbst haben drei Töchter, wobei eine Tochter Gärtnerin geworden ist. War diese Berufswahl für Sie oder Ihr akademisches Umfeld jemals ein Thema?

Largo: Für uns war das kein Problem. Ich komme ja selber nicht aus einer Akademikerfamilie und weiß, wie Handwerker sind. Aber wir wurden immer wieder mit diesem Standesdenken konfrontiert, als uns andere gefragt haben: Warum studiert die Eva nicht? Ich weiß, dass viele Eltern das nicht gerne hören, aber das Beste, was Eltern tun können, ist, das Kind so zu unterstützen, dass es am Schluss nicht dort ist, wo die Eltern es haben wollen, sondern dort, wo es auch hingehört und selbst hingehören will.

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