Eine Fiktion des Geistes

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Um einer angeblich so glorreichen Zukunft willen sind Millionen Menschen falschen Propheten gefolgt. Aus der Vergangenheit lernend, möge daher bitte künftig auf die glorreiche Zukunft verzichtet werden.

Nach und nach hat sich in uns düsteren und von Zweifeln geschüttelten Europäern der Gedanke festgesetzt, dass wir in der jüngsten Vergangenheit nur allzu oft falschen Propheten hinterhergelaufen sind. Die Führer von Kommunisten, Faschisten und Nationalsozialisten etwa wurden von Massen euphorisch verehrt. Wohl jeder zweite Europäer identifizierte sich im 20. Jahrhundert mit ihren Ideen, nicht zuletzt, weil damit ein verführerisches Bild von der Zukunft entworfen werden konnte. Und doch - oder eben gerade deshalb - haben diese Ideen Millionen von Menschen den Tod gebracht, niemals gab es größere Gräuel als im 20. Jahrhundert. Man bleibe uns also fürderhin vom Leibe mit Ideen und daraus abgeleiteten Entwürfen einer glorreichen Zukunft, die hatten es nämlich immer schon faustdick hinter den Ohren.

Es geht nicht göttlich zu

Wir, die Enkel der Verführten, sind demnach "abgesotten in der Einsicht und in ihr kalt und hart geworden, dass es in der Welt durchaus nicht göttlich zugeht, ja noch nicht einmal nach menschlichem Maße vernünftig, barmherzig oder gerecht", wie bereits Nietzsche für seine Zeitgenossen formulierte. Und "dass die Welt nicht das hält, was man sich von ihr versprochen hat, ist vielleicht das Sicherste, dessen unser Misstrauen endlich habhaft werden konnte". Wer hinsichtlich glorreicher Ideen für die Zukunft also kein Pessimist oder nicht zumindest ein Melancholiker ist, begeht einen Erkenntnisfehler, ja, der ist geradezu verstockt. Auch als überzeugter Christ, Sozialdemokrat oder Liberaler muss man heute einsehen, dass wir stets die Teufel und die von Teufeln Gequälten in Personalunion waren, dass wir uns in regelmäßigen Abständen das Leben zur Hölle machten, um vermeintlich großen Ideen für die Zukunft den Weg zu bereiten.

Hoffnung Christentum?

Aber, gesetzt den Fall, man würde auf das Christentum alle Hoffnung für die Zukunft setzen und erst einmal absehen von Inquisition, Folter und fundamentalistischen Tendenzen in der Vergangenheit, dann müsste man sich freilich im Klaren darüber sein, dass wahre Christen immer auch schon Kommunisten waren, der kommunistische Gedanke der Gleichheit aber jedem ehrgeizigen Menschen ein Unding ist. Denn will sich das Leben nicht "in die Höhe bauen", wie es Nietzsche formulierte, "mit Pfeilern und Stufen" und "in weite Fernen blicken und hinaus nach seligen Schönheiten"? Und braucht das Leben deshalb nicht "Stufen und Widerspruch der Stufen und Steigenden", die "Herausbildung immer höherer, seltenerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus ,Mensch'"? Man stelle sich einmal eine Welt vor, in der jeder alles mit jedem teilen muss, also jeder arm ist wie eine Kirchenmaus, und in der jeder jeden lieben muss, also jeder zu Naivität und Einfalt verpflichtet wäre! Erschiene es da manchem nicht erstrebenswerter, den Heldentod zu sterben?

Trotz aller Ernüchterung bleibt freilich auch uns guten Europäern nichts anderes übrig, als das Künftige mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Wer denkt, wer existiert, erwartet etwas, ob er nun will oder nicht, ob er nun Zweifel hat oder glaubt. So bleiben wir im Ungewissen. Trotzdem wünschen wir die Folgen unserer Handlungen im Voraus zu kennen. Dabei denken wir an Handlungen in der Vergangenheit und deren Folgen - in der Annahme, dass gleiche Handlungen zu gleichen Ergebnissen führen. Diese Art von Gedanken, so Thomas Hobbes in seinem Leviathan, nennt man "Klugheit oder Vorsehung und manchmal Weisheit, obwohl solche Mutmaßung wegen der Schwierigkeit, alle Umstände zu beachten, sehr trügerisch sein mag. [...] Nur die Gegenwart existiert in der Natur; vergangene Dinge existieren nur in der Erinnerung, aber kommende Dinge existieren überhaupt nicht, denn die Zukunft ist nur eine Fiktion des Geistes, der die Folge vergangener Handlungen auf die gegenwärtigen Handlungen anwendet, was der am sichersten tut, der die meiste Erfahrung hat, aber nicht sicher genug."

Die Zukunft "im Himmel"?

Wenn unsere Zukunft nun aber gar nicht in dieser Welt, sondern "im Himmel" zu finden wäre? Gibt es hierfür Zeichen? Zuständig für solche Zeichen wären jene, die mit der Transzendenz Kontakte pflegen und die man seit jeher "die Heiligen" nennt. Aber wo sind sie, die vor Gottessehnsucht Wahnsinnigen, die mit dem Teufel ringen, Stigmen tragen, mit den Tieren reden, die Ausgezehrten mit den glühenden Augen, die vielleicht wirklich wissen, wo Gott wohnt? Wo bleibt die maßlose Verzückung, mit der uns von einer Zukunft im Himmel berichtet wird? Man würde sie nur allzu gerne sehen, die Heiligen in unserer modernen Welt, aber man sieht sie nicht. Freilich, man sieht charismatische Sozialhelfer und freut sich. Aber man sieht vor allem auch Verwalter und Event-Manager des Glaubens, die Kirche, "das einzige absolutistische System in der westlichen Welt, das sich nach der Französischen Revolution noch gehalten hat", wie es der Theologe Hans Küng formuliert hat. Was haben sich doch die Philosophen aller Zeiten vor den Verwaltern der Religionen fürchten müssen!

Nur denken, nicht handeln

Und was haben auch Philosophen nicht alles für die Zukunft erdacht, was letztlich von Übel war! Doch vergessen wir nicht, dass das Üble stets daher rührte, dass sich Spätere bemüßigt fühlten, das Erdachte in die soziale Wirklichkeit zu überführen, also politisch zu exekutieren. Wäre es demnach nicht besser, ja heilsamer, wenn die Zukunft, als eine meist philosophische Fiktion des Geistes, auch eine solche bliebe, in einem anregenden Gespräch, einem erfrischenden Gedankenspiel, einer berückenden Theorie, wenn solche "Höhe", solche "Stufen" und solches "Steigen" niemals eine neue, überschwängliche oder gar glorreiche Realität ergeben würden? Dann würden wir, die wir Zukunft bloß bedenken, auch niemals zu jenen falschen Propheten gehören, die andere ins Unglück treiben. Haben wir jenen "seligen Schönheiten", von denen Nietzsche zu wissen meint, dass sich das Leben zu ihnen aufschwingen will, nicht tatsächlich zu entsagen - gerade des Lebens wegen, das sich ja nicht bloß optimal entwickeln, sondern auch schlichtweg weiterleben will?

Die Zukunft dem Kleingeist!

Was für die Zukunft dann letztlich übrig bliebe, wäre bloß eine Vielzahl kleiner, pragmatischer Schritte, die freilich allesamt keinen großen Wurf ergäben, jedoch auch niemanden in großem Stil erschlagen würden. Vielleicht ist es in Wahrheit besser, ein Kleingeist zu sein, was das Handeln betrifft. Bedenken wir doch, wie fabelhaft bereits eine Zukunft wäre, welche uns eine Welt bescherte, die "nach menschlichem Maße vernünftig, barmherzig oder gerecht" wäre. Kann man von einer Zukunft mehr erwarten?

Der Autor ist Philosoph und Inhaber der Philosophischen Praxis www.philosophische-praxis.at.

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