"Eine Kollektivschuld gibt es nicht"

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Am 10. März 1988 hielt Viktor Frankl am Wiener Rathausplatz eine viel beachtete Gedenkrede. Die Worte von damalsgelten besonders heute.

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Am 10. März 1988 hielt Viktor Frankl am Wiener Rathausplatz eine viel beachtete Gedenkrede. Die Worte von damalsgelten besonders heute.

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Ein in der Nähe von Wien aufgegriffener Ausländer wurde von der Bevölkerung gelyncht. Er soll wegen seiner fremdländischen Kleidung aufgefallen sein. Mangels Sprachkenntnissen konnte er sich nicht verteidigen. Die aufgebrachte Bevölkerung meinte einen böhmischen Spion vor sich zu haben und hängte ihn an einem Holunderbaum.

Ein Beispiel für dem Fremdenfeindlichkeit der heutigen Österreicher? Nein, der geschilderte Fall ereignete sich am 17. Juli 1012 in Stockerau. Das Opfer war ein irischer Palästinerpilger mit Namen Koloman. Bald nach seinem Tod wird er als Heiliger verehrt und war bis 1663 sogar der Landespatron von Österreich. Damit wurde den Menschen dieser Zeit wohl die Botschaft nahegebracht, Fremde nicht nur als Bedrohung sondern als potentielle Heilige zu sehen und sie jedenfalls nicht vorzuverurteilen. An der Sprachkenntnis mangelt es heute meist nicht, trotzdem gibt es oft massive Verständigungsschwierigkeiten.

Ein österreichischer Staatsbürger ohne europarechtlich relevanter Funktion hat - so wurde es in den Medien zumindest kolportiert - mehrfach teilweise als Verbalradikalismus im Sinne der Überschrift zu wertende Erklärungen abgegeben. Dies hat zu massiven internationalen Reaktionen, aber erst im Zusammenhang mit der Regierungsbildung geführt.

Als Österreicher und Unionsbürger hätte man vor allem von den Organen der EU aber auch von den führenden Politikern der 14 Mitgliedsstaaten keine Vorverurteilung Österreichs auf Grund einer solchen Sachlage erwartet. Eine am Grundsatz der gleichen Behandlung orientierte Auseinandersetzung mit der Frage, ob andere, mächtigere Länder, in denen Fremdenunterkünfte angezündet oder Nordafrikaner gejagt und massakriert wurden, fremdenfeindlicher sind oder nicht, erscheint sinnlos. Aus dem unrechtmäßigen Tun Anderer ist keinesfalls ein Recht abzuleiten. Es ist vielmehr positiv zu werten, dass tatsächlich in Österreich viele Ausländer, auch aus anderen Kultur- und Glaubensbereichen, friedlich nebeneinander leben.

"Wen soll ich hassen?"

Eine sachliche Auseinandersetzung mit Fakten und keine Vorverurteilung mit Ausgrenzung eines Staates wäre im Sinne der Ziele der Union gelegen gewesen. In diesem, aber auch in anderem Zusammenhang, drängt sich die Frage der Kollektivschuld auf. Wie weit haben Gruppen für schuldhafte Handlungen bzw. Unterlassungen Einzelner einzustehen?

Vor dem Hintergrund der furchtbaren Ereignisse im Dritten Reich hat Viktor Frankl am 10. März 1988 am Rathausplatz anlässlich einer Gedenkkundgebung folgende zeitlos berührende Aussagen getroffen: "Meine Damen und Herren, ich hoffe auf Ihr Verständnis, wenn ich Sie bitte, zu dieser Stunde des Gedenkens gemeinsam mit mir zu gedenken: Meines Vaters - er ist im Lager Theresienstadt zu Grunde gegangen; meines Bruders - er ist im Lager Auschwitz umgekommen; meiner Mutter - sie ist in der Gaskammer von Auschwitz ums Leben gekommen; und meiner ersten Frau - sie hat im Lager Bergen-Belsen ihr Leben lassen müssen. Und doch muss ich Sie darum bitten, von mir kein Wort des Hasses zu erwarten. Wen sollte ich auch hassen? Ich kenne ja nur die Opfer, aber nicht die Täter, zumindest kenne ich sie nicht persönlich - und lehne es ab, jemanden kollektiv schuldig zu sprechen. Eine Kollektivschuld gibt es nämlich nicht, und ich sage das nicht erst heute, sondern ich hab das vom ersten Tag an gesagt, an dem ich aus meinem letzten Konzentrationslager befreit wurde - und zu der Zeit hat man sich wahrlich nicht beliebt gemacht, wenn man es gewagt hat, öffentlich gegen die Kollektivschuld Stellung zu nehmen. Schuld kann jedenfalls nur persönliche Schuld sein - die Schuld an etwas, das ich selbst getan habe - oder vielleicht zu tun unterlassen habe! Aber ich kann nicht schuld sein an etwas, dass andere Leute getan haben, und seien es auch die Eltern oder die Großeltem. Und den Österreichern, die heute zwischen Null und 50 Jahren alt sind, in diesem Sinne eine sozusagen ,rückwirkende Kollektivschuld' einzureden, halte ich für ein Verbrechen und für einen Wahnsinn - oder, um es psychiatrisch zu formulieren, es wäre ein Verbrechen, würde es sich nicht um einen Fall von Wahnsinn handeln. Und um einen Rückfall in die sogenannte Sippenhaftung der Nazis! Und ich denke, gerade die Opfer ehemaliger kollektiver Verfolgung sollten die ersten sein, die hier zustimmen. Es wäre denn, sie legen Wert darauf, die jungen Leute den alten Nazis oder den Neonazis in die Arme zu treiben!"

Falscher Heroismus Viktor Frankl setzt sich dann weiter damit auseinander, wieso er aus dem KZ nach Österreich zurückgekehrt ist und sagt, wenn er gefragt wird, ob ihm die Wiener zu wenig angetan haben: "In Wien gab es zum Beispiel eine katholische Baronin, die unter Lebensgefahr eine Cousine von mir als ,U-Boot' versteckt gehalten und ihr so das Leben gerettet hat. Und dann gab es in Wien einen sozialistischen Rechtsanwalt, der hat mir - ebenfalls sich selbst gefährdend - Lebensmittel zugesteckt, wann immer er nur konnte. Wissen Sie, wer das war? Der Bruno Pittermann, nachmaliger Vizekanzler von Österreich. Nun, frage ich die Amerikaner weiter, warum hätte ich in eine solche Stadt, in der es solche Menschen gab, nicht zurückkehren sollen? ... Ich höre Sie sagen: Das ist ja alles gut und schön - aber das waren ja nur die Ausnahmen - Ausnahmen von der Regel, und in der Regel waren die Leute doch nur Opportunisten - sie hätten Widerstand leisten müssen ... Sie haben Recht; aber bedenken Sie, Widerstand setzt doch Heroismus voraus, und Heroismus darf man meiner Ansicht nach nur von einem einzigen Menschen verlangen, und das ist - man selbst! Und wer da sagt, man hätte sich lieber einsperren lassen sollen, als dass man sich mit den Nazis arrangiert, der dürfte das eigentlich nur dann sagen, wenn er für seine eigene Person unter Beweis gestellt hat, dass er es vorgezogen hatte, sich ins Konzentrationslager stecken zu lassen, und siehe da: Diejenigen, die in den Konzentrationslagern waren, urteilen im Allgemeinen viel milder über die Opportunisten, milder als diejenigen, die sich währenddessen im Ausland aufhielten. Ganz zu schweigen von der jungen Generation - wie soll die sich vorstellen können, wie die Leute gebangt und gezittert haben um ihre Freiheit, ja um ihr Leben und nicht zuletzt um das Schicksal ihrer Familie, für die sie immerhin die Verantwortung getragen haben. Nur umsomehr müssen wir diejenigen bewundem, die es gewagt haben, sich der Widerstandsbewegung anzuschließen ...

Wollten wir aus all dem die politischen Konsequenzen ziehen, sollten wir ... die Stimme der Vernunft hören und die Forderung des Tages ... darin sehen, dass alle, die guten Willens sind, einander die Hände entgegenstrecken, hinweg über alle Gräber, und hinweg über alle Gräben."

Diesen berührenden Worten eines unmittelbar Betroffenen ist nur die Hoffnung hinzuzufügen, dass sie über das unmittelbare Geschehen hinauswirken und allseits nicht in Vergessenheit geraten.

Der Autor ist Hofrat des Verwaltungsgerichtshofes.

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