Einfach ins Herz geschlichen

Werbung
Werbung
Werbung

Anita und Manfred Glanz haben ein Pflegekind bei sich aufgenommen.Was veranlasst Eltern, sich diese schöne - und ganz schön schwierige - Aufgabe anzutun?

Maurice liebt Autos. Quietschvergnügt robbt er auf der Decke am Boden herum und beobachtet den gelben Plastik-PKW in den Händen seiner Mutter. "Autos sind sein absolutes Lieblingsspielzeug. Die mag er besonders - neben echten U-Bahnen und Straßenbahnen", verrät Anita Glanz. Weniger heiß liebt der 18 Monate alte Bub seine Brille. Kaum sitzt ihm das hellblaue Modell Marke "Harry Potter" auf der Nase, befördert er es unsanft unter den Heizkörper. Doch solche Kleinigkeiten werfen eine echte Mama nicht aus der Bahn: Ebenso hartnäckig wie liebevoll platziert sie die Brille wieder dorthin, wo sie hingehört: vor die blitzblauen, schielenden Augen ihres kleinen Maurice.

Zuhause im Spital

Eine ganz normale Familienidylle, auch wenn die 44-jährige Wienerin ganz und gar nicht Maurice' echte Mama ist. Erst im April dieses Jahres ist er wie ein Wirbelwind in ihr Leben eingebrochen - mit einem Telefonanruf. "Der Sozialarbeiter hat uns erzählt, dass ein kleiner Bub im Spital liegt - mit schwerer Bronchitis", erinnert sich die Ersatzmama. Wie so oft hatte ihn seine leibliche Mutter - Zeit ihres Lebens süchtig und seit 14 Jahren methadonabhängig - angesteckt.

Das Krankenhaus war längst zur zweiten Heimat des Buben geworden: Schon Stunden nach seiner Geburt am 28. Juni 2002 war Maurice auf Entzug. Fünf Monate lang lag das Bündel Mensch auf der Intensivstation im Wiener Wilhelminenspital, angehängt an Maschinen, die ihn zwar künstlich ernähren konnten, ihm aber das vorenthielten, was er so dringend brauchte: Geborgenheit. Erst im November nahm ihn seine 43-jährige Mutter zu sich. Eine Heimkehr ins Chaos, wie sich herausstellen sollte: "Sie war offensichtlich überfordert", meint Anita Glanz. Zum angeborenen Atemnotsyndrom und verdickten Herzmuskel kamen Unterernährung und eine Wirbelsäulenverkrümmung. Spätestens im April dieses Jahres war klar, dass Maurice eine Ersatzfamilie braucht. Die zuständige Behörde, das Referat für Adoptiv- und Pflegekinder des Wiener Amts für Jugend und Familie (MAG ELF), dachte an die Familie Glanz. Zwei Wochen später lag der federleichte Knirps in ihrem Wohnzimmer - viel zu klein für alle Kleidungsstücke, die man vorbereitet hatte.

Mutter für 20 Kinder

An Erfahrung mangelte es Anita und Manfred Glanz beileibe nicht: Selbst Mutter und Vater eines 21-jährigen Sohnes und einer 18-jährigen Tochter, haben sie als Krisenpflegeeltern in den vergangenen sechs Jahren ingesamt 20 Kinder vorübergehend bei sich aufgenommen - wenn es sein musste, auch binnen einer Stunde: Babys von obdachlosen Frauen, Einjährige, die geschlagen wurden, Dreijährige, deren drogenabhängige Eltern nicht einmal für sich selbst sorgen konnten. Warum sie sich das angetan habe? "Ganz einfach: Weil ich Kinder liebe", erzählt die "Notfallmama". Bis geklärt war, wo die Knirpse endgültig untergebracht werden sollten - in einer Pflegefamilie, bei den leiblichen Eltern oder in einem Kinderheim - fanden sie bei den Glanz' ein Zuhause. Nach acht Wochen, manchmal auch mehr, hieß es freilich Abschied nehmen. Keine leichte Angelegenheit. Doch die Freude über die Heimkehr des Kindes zu den Eltern - oder einen guten Platz bei einer Pflegefamilie - überwog.

Bei Maurice sollte es anders kommen: "Die Sozialarbeiter haben einfach keine Pflegeeltern gefunden, weil seine Betreuung sehr aufwändig ist", denkt Anita Glanz zurück. Den lieb gewonnenen Blondschopf in einem Heim zu wissen, schien ihr jedoch unerträglich. Nach einer Woche Krisenrat und einem Besuch beim Psychologen, der ihre Erwartungen und Ängste abklären sollte, war schließlich die Entscheidung gefallen: Maurice bleibt fix in der Familie. Als Pflegekind.

Bis heute muss der 7,25 Kilo leichte Bub zwei Mal wöchentlich zur Physiotherapie und ein Mal pro Woche zur Frühförderung. Wegen der Wirbelsäulenverkrümmung soll der Eineinhalbjährige nicht sitzen. "Aber das könnte er ohnehin noch nicht", bemerkt Glanz. Zudem ist unklar, ob Maurice wie seine Mutter Hepatitis C hat, ob er jemals gehen können wird oder ob er geistig beeinträchtig ist. Eine große Herausforderung, sind sich die Pflegeeltern bewusst: "Aber wir nehmen den Maurice so, wie er ist. Er hat sich einfach in unser Herz geschlichen."

Wie Maurice haben rund 1.000 Wiener Kinder bei Pflegefamilien Unterschlupf gefunden, nur 429 freilich in der Bundeshauptstadt selbst. Die übrigen mussten zu Pflegeeltern in anderen Bundesländern vermittelt werden. Ein Anlass für die zuständige Wiener Magistratsabteilung 11, mit einer Informationskampagne auf diese ebenso schöne wie schwierige Aufgabe aufmerksam zu machen. "Wir brauchen vor allem Pflegeeltern für Kinder, die Defizite haben und deren Entwicklung schwer vorherzusehen ist", meint Martina Reichl-Roßbacher, Leiterin des Referats für Adoptiv- und Pflegekinder, im Gespräch mit der Furche. "Ersatzeltern" könnten die Entwicklungschancen dieser Kinder entscheidend verbessern und den gefürchteten Hospitalismus verhindern helfen: "Unser Ziel ist ja, dass die Kinder in einer Familie aufwachsen und nicht im Heim."

Dass die Anforderungen für Pflegeeltern hoch gesteckt sind, ist Reichl-Roßbacher wohl bewusst: Gelassenheit und Erfahrung im Umgang mit Kindern gehören ebenso dazu wie die Fähigkeit, Leistungsansprüche zurückzustellen und dem Druck, der gerade auf Familien mit körperlich oder geistig beeinträchtigen Kindern lastet, standzuhalten. "Eines ist klar: Wir suchen für Kinder die passenden Eltern - und nicht umgekehrt", stellt Reichl-Roßbacher fest.

Beruf und Berufung

Um abzuklären, ob einem Paar oder auch einer alleinstehenden Person ein Pflegekind anvertraut werden kann, überprüft das Jugendamt neben den persönlichen Eignungen auch die sozialen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Darüber hinaus müssen angehende (Krisen-)Pflegeeltern in Wien einen vierwöchigen Vorbereitungskurs an einer Volkshochschule besuchen. Hier besteht die Möglichkeit, die eigene Motivation zu prüfen. Im Rahmen eines Wochenendseminars werden sie schließlich auf ihre künftige Aufgabe intensiv vorbereitet. Dazu kommen regelmäßige Supervision und Fortbildung. Um die anfallenden Kosten für die altersadäquate Versorgung der Kinder decken zu können, erhalten "Ersatzeltern" ein Pflegeelterngeld von 365 Euro monatlich - 16 Mal im Jahr. Falls Anspruch darauf besteht, kommen noch Kinderbetreuungsgeld und Familienbeihilfe dazu.

Seit 1. Jänner 2003 gibt es für Wiener Pflegeeltern darüber hinaus die Möglichkeit, sich im Umfang von 20 Stunden pro Monat anstellen zu lassen. Die Arbeitszeit umfasst neben der verpflichtenden Teilnahme an einer Supervisions- und Reflexionsgruppe auch entsprechende Fortbildungen. Mit der Anstellung verbunden sind eine Pensions-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung sowie eine monatliche Aufwandsentschädigung von 255 Euro. Bislang haben 69 Wiener Pflegeeltern dieses Angebot in Anspruch genommen.

Mama trifft Mama

Eine von ihnen ist auch Anita Glanz. Zwei Mal monatlich geht sie zur Supervision. Ein Mal pro Monat schaut sie - gemeinsam mit Maurice - eine Stunde lang im zuständigen Jugendamt vorbei, wo seine leibliche Mutter auf ihn wartet. "Sie ist einigermaßen nett", erzählt die Pflegemutter. "Aber natürlich ist das eine schwierige Situation. Sie möchte ihn zurück, doch das ist angesichts ihrer Verfassung nicht möglich." Insgesamt fünf Kinder hat Maurice' Mutter geboren - keines ist bei ihr selbst aufgewachsen. "Aber hier Vorwürfe zu machen, hat keinen Sinn", wirft Anita Glanz ein. "Es ist schon gut, wenn sie ihr eigenes Leben meistert."

Als Pflegemutter gehe es ihr nun vor allem darum, ihrem Schützling so viel Liebe und Zuwendung wie möglich zu schenken. Nicht aus Mitleid, "denn Mitleid hält nicht 18 Jahre lang an". Auch nicht aus der Hoffnung heraus, dass ihr Maurice einmal dankbar sein könnte. Sondern aus ganz eigennützigen Gründen: "Weil ich seine Nähe genieße."

Diese Seite entstand in Kooperation mit der Stadt Wien/MAG ELF. Die redaktionelle Verantwortung liegt bei der Furche.

Wien sucht Pflegeeltern

Mit einer Informationskampagne will die Stadt Wien Aufmerksamkeit für das Thema Pflegekinder schaffen. Zugleich soll die große Leistung der Pflegemamas und

Pflegepapas gewürdigt werden.

Krisenpflegeeltern übernehmen für einen kurzen Zeitraum die Elternschaft eines

Kindes, Pflegeeltern für unbestimmte Zeit. In beiden Fällen haben die leiblichen Eltern das Recht, ihr Kind regelmäßig zu sehen.

Nähere Informationen bietet das Referat für Adoptiv- und Pflegefamilien der MAG ELF - Amt für Jugend und Familie unter (01) 4000-90770, www.pflegemama.at und www.pflegepapa.at.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung