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Die Schengen-Erweiterung hat die Ukraine zur Pufferzone an der EU-Außengrenze gemacht, in der Flüchtlinge aufgerieben werden. So wie jede Festung hat auch die Festung Europa ihren Kerker. Doch der liegt außerhalb der EU-Grenzen: Im Anhaltelager Pavshino in den Wäldern Transkarpatiens vegetieren unter unmenschlichen Bedingungen hunderte Somalier, Inder, Bengalen, Chinesen, Usbeken, Iraker …, die auf dem Weg in die EU an der Schengen-Grenze abgefangen wurden. Angesichts der Not im eigenen Land ist die Ukraine bei der Unterbringung dieser Menschen überfordert. Doch nicht alle in Europa und Österreich vergessen ihre Verantwortung und schauen bei diesem Kerkerelend weg.

Die Flüchtlinge im Anhaltelager Pavshino im Westen der Ukraine haben keinen anderen Namen als das Land aus dem sie kommen: "He du, Somalier!" - "Komm her, Inder!" - "Mach die Tür auf, Afghane!" - "Bengale, was willst du?" … Alle 383 Gefangenen, die letzte Woche in diesem Lager festgehalten wurden, wollten nach Europa; dass das, wo sie gelandet sind, auch Europa sein soll, glauben sie nicht. Sie wollten in das "andere Europa", sagen sie, in das Europa, in dem es Arbeit gibt, in dem sie Geld verdienen können, in dem die Menschenrechte hochgehalten werden und sie Asyl erhalten. In das Europa wollten sie, in dem bereits Freunde und Verwandte leben. In dieses reiche Europa wollten sie gelangen; im ärmsten Teil Europas sind sie gestrandet. Eingesperrt in einer zum Anhaltelager umfunktionierten aufgelassenen Militärkaserne unweit der ukrainisch-slowakischen Grenze. Bis zu einem halben Jahr und länger warten diese Männer schon, wissen nicht, was mit ihnen geschieht. Sie warten in völliger Ungewissheit über ihre Zukunft: Werden sie abgeschoben? Wird ihr Asylantrag bearbeitet? Oder werden sie hier einfach vergessen?

Sie warten in heruntergekommenen Baracken, zu Dutzenden eingepfercht in Schlafsälen mit Schimmel an der Decke und an den Wänden, verurteilt zu primitivster Lebensweise, ohne ein Minimum an Komfort. Das Warten dieser rund 400 Männer ist ein Dahinvegetieren in Dreck und Gestank, im Sommer noch dazu unerträglich heiß und im Winter unbarmherzig kalt. Bei der Tierhaltung gibt es die Auflage artgerecht, diese Flüchtlingsanhaltung passiert ohne Auflagen. "So arm wie bei mir zuhause", sagt ein Bengale zum Lager in Pavshino, "aber zuhause war ich wenigstens nicht eingesperrt." Wird seinem Asylantrag stattgegeben, erhält er vom ukrainischen Staat 17 Griwna Starthilfe ausbezahlt - das sind umgerechnet 2 Euro und 50 Cent! Doch die Chancen auf einen Flüchtlingsstatus in der Ukraine sind sowieso äußerst gering. Gut 1000 Asylanträge wurden im letzten Jahr in der Region Transkarpatien bearbeitet - keinen einzigen Antrag hat die Behörde positiv entschieden.

"Es gibt leider keinen, dem wir Asyl geben konnten", sagt der Leiter der Asylbehörde für Transkarpatien Mykola Towt (siehe auch Interview nächste Seite). 80 Prozent aller Antragsteller, rechnet Towt vor, kommen aus Indien, Pakistan und Bangladesh: "Das sind hauptsächlich Wirtschaftsflüchtlinge, wir arbeiten von Anfang an auf ein negatives Resultat in diesen Asylverfahren hin, aber auch ein negatives Resultat ist ein Resultat!" Viele Asylwerber würden während des laufenden Verfahrens spurlos verschwinden, erzählt Towt. "Tote Seelen" nennt er diese Fälle. Und manchmal kommt es sogar vor, dass er nach Monaten eine Postkarte aus Portugal oder Schweden oder Kanada oder anderswo aus der Welt erhält - mit lieben Grüßen und der Benachrichtigung, dass eine seiner Karteileichen in einem dieser Länder Asyl bekommen hat.

Der Iraker Ahmed im Lager Pavshino hofft indes, dass mit ihm die lange Serie an abgelehnten Asylanträgen in Transkarpatien zu Ende geht. Ahmed sitzt in seinem Bett und anstatt zu erzählen, was ihm passiert ist, zieht er mit seiner rechten Hand an seiner linken Hand, die daraufhin mit einem saugenden Geräusch von seinem Unterarm rutscht und einen frisch verheilten, rosafarbenen Armstumpf freigibt. Eine Autobombe in Bagdad hat Ahmed seine linke Hand weggerissen und seine rechte Hand schwer verletzt. Während er sich die Prothese wieder ansteckt, muntern ihn die Zimmerkollegen auf, seine zweite Verwundung herzuzeigen. Ahmed zieht seine Hose hinunter - die Operation habe sechs Stunden gedauert, sagt er, und "eigentlich bin ich jetzt gar kein richtiger Mann mehr". Er lächelt und wartet, vielleicht sagt einer, dass das so nicht stimmt. Aber keiner im Zimmer sagt etwas; "armes Schwein" denken sich die anderen. Erst als Ahmed seine Hose hinaufzieht und sagt: "Eigentlich habe ich riesiges Glück gehabt, dass ich noch lebe", lösen sich die Umstehenden aus ihrer Erstarrung und nicken ihm zu.

Der richtige Ort für Ahmed wäre eine Rehabilitationsklinik. Im anderen, im reichen Europa würde er eine derartige Behandlung zugesprochen bekommen. In dem Europa, in dem er sich befindet, muss er sich mit dem oberen Platz in einem eisernen Stockbett zufrieden geben und seine Zimmerkameraden bitten, dass sie ihm das Essen bringen und die Fäkalienschüssel wegtragen.

In der Europäischen Union würde der Iraker zweifellos Asyl erhalten. Doch über die Schengen-Grenze hat er es nicht mehr geschafft und in der Ukraine ist sein Status ungewiss. Das ukrainische Asylrecht kennt keinen subsidiären oder humanitären Schutz. Diesen schwächeren Schutzstatus, verbunden mit einem zeitweiligen Aufenthaltsrecht, erhält in der EU, wer die strengen Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention nicht erfüllt, aber aus einem Staat kommt, in dem Krieg herrscht und man deswegen keine Menschen dorthin abschieben kann. Die Ukraine hinkt diesbezüglich den europäischen Flüchtlings- und Menschenrechtsstandards weit hinterher. Mykola Towt von der transkarpatischen Asylbehörde ist sich dessen bewusst; die Ukraine befinde sich selbst noch in einem Lern- und Übergangs- und Aufholprozess, rechtfertigt er das mangelhafte Asylstem in seinem Land. Abschieben, zurückschicken, wegbringen, lautet die Devise der ukrainischen Behörden - egal wer, egal wohin, Hauptsache schnell, Hauptsache billig: 4500 Personen wurden im letzten Jahr an der ukrainischen Grenze angehalten; nur gut 1000 davon haben es in ein Asylverfahren geschafft - mit der bereits genannten Anerkennungsquote: Null!

Menschgerechte Haltung

"Wir dürfen in Pavshino Duschen bauen und Lebensmittelpakete verteilen, aber Rechtsberatung wird uns verwehrt!" klagt Birgit Koller von der Caritas Österreich. Die österreichische Hilfsorganisation hilft in Zusammenarbeit mit der ukrainischen Caritas und unterstützt vom österreichischen Innenministerium und der EU, damit im Lager Pavshino und in anderen Flüchtlingslagern an der Grenze von Tier- auf Menschenhaltung umgestellt wird.

Die humanitäre Hilfe aus Österreich ist sehr willkommen, doch gegen die rechtliche Beratung von Flüchtlingen wehrt man sich. Nicht ohne Grund. Im Fall des Irakers Ahmed soll ein Aufseher dessen Aufnahmebescheid ins Asylverfahren zerrissen und ins Klo geschmissen haben, wettert der Palästinenser, der im Bett unter dem Schwerinvaliden schläft. "Die machen mit uns, was sie wollen", pflichtet ihm ein anderer im Zimmer bei, rollt eines seiner Hosenbeine nach oben und zeigt auf eine Abschürfung am Knie, die ihm ein ukrainischer Wachsoldat zugefügt haben soll.

Alles korrekt nach Vorschrift

Der stellvertretende Lagerkommandant von Pavshino, Andriy Dovganyuk, widerspricht: Die Lagerinsassen würden vom Wachpersonal korrekt behandelt. Wenn es zu Streitereien und Handgreiflichkeiten komme, dann nur unter den Eingesperrten selbst. Die Frage nach der Häufigkeit und Intensität solcher Zusammenstöße beantwortet Dovganyuk mit einer Gegenfrage: "Was glauben Sie, wie schwierig es ist, hier ein friedliches Miteinander aufrecht zu erhalten? Hier in Pavshino müssen Dutzende Nationalitäten und Kulturen auf engstem Raum zusammenleben!" Kommandant Dovganyuk findet es angemessen, dass die EU die Ukraine bei der Unterbringung und Verpflegung der Flüchtlinge unterstützt: "Wir sind zum Puffer geworden, wir machen für Europa die Arbeit."

Von einem Wachturm aus beobachtet ein Soldat das Treiben im Lagerhof. Einige Gefangene drehen dort ihre Runden, allein, den Kopf gesenkt, in Gedanken versunken, stapfen sie über den schlammigen Platz; andere stehen in Bettdecken gehüllt in kleinen Gruppen zusammen. Trotz der eisigen Temperaturen flattern T-Shirts und Hosen auf einer Wäscheleine im Wind und ein Lagerinsasse schrubbt am Boden hockend seine Unterwäsche in einem Plastikkübel. Gegen drei Uhr nachmittag ruft die Stimme eines Muezzins zum Gebet. Der Hof leert sich, die Männer marschieren in einen zur Moschee umgewidmeten Aufenthaltsraum: "Allahu Akbar" - "Gott ist der Größte", hört man die Stimme des Vorbeters durch die Fenster des Gebetsraums ins Freie dringen.

Beten kostet nichts, deswegen ist es in Pavshino erlaubt. Das Hoffen auf den Himmel ist billig, doch das Leben in dieser Welt ist selbst in einem primitiven Flüchtlingslager teuer. Zu teuer für die Ukraine, in der Pensionisten mit 470 Griwna im Monat, umgerechnet keine 70 Euro, auskommen müssen. Das Mitleid mit ausländischen Flüchtlingen hält sich daher in der ukrainischen Gesellschaft in sehr engen Grenzen.

Und nicht nur in der Ukraine. Beim Nachbarn Slowakei, immerhin EU-Mitgliedsland, gibt Bernard Priecel vom slowakischen Migrationsamt offen zu: "Wir haben schon genug Probleme mit unserer Roma-Gemeinschaft." Die Slowakei "ist nicht reich", und die Unterbringung eines Flüchtlings kostet sechsmal soviel wie ein slowakisches Durchschnittsgehalt. Auch in der Slowakei ist es deswegen offizielle Linie, das Minimum der Genfer Flüchtlingskonvention zu erfüllen.

Im Schengen-Zaun gefangen

Hinzu kommt, dass die ehemals kommunistischen Staaten in Osteuropa keine Tradition bei der Aufnahme von Flüchtlingen besitzen, sagt eine Menschenrechts-Beobachterin in der Region, die namentlich nicht genannt werden möchte: "Diese Länder waren abgeschlossen und sind jetzt Transitwege für Flüchtlinge geworden. Für sie ist es schwierig, in Flüchtlingen etwas anderes als Eindringlinge zu sehen."

Und für die Flüchtlinge, die von der Schengen-Grenze gestoppt werden, ist es schwierig, in der Ukraine, in die sie nie wollten, eine Zukunft für sich und ihre Familien zu sehen. "Ich kann hier nicht leben, ich habe hier keine Perspektive und mein Mann nicht und mein Kind auch nicht", sagt Susan, die mit ihrem Ehemann Zaman aus dem Irak geflüchtet ist. Über Petersburg, wo ihr Sohn Ajo zur Welt gekommen ist, sind sie auf dem Weg nach Westeuropa in Transkarpatien hängen geblieben. Susan ist Christin, ihr Mann Muslim, aus Angst vor Verfolgung, sind sie geflüchtet. Im Irak hat die Frau als Journalistin gearbeitet, sie spricht perfekt Englisch, der Mann war Elektrotechniker. In der Westukraine sind sie nichts, sagen beide und "hier werden wir auch nie etwas werden". Dreimal haben sie in den letzten Jahren versucht, die Schengen-Grenze illegal zu überwinden, dreimal hat man sie erwischt. Ihre letzte Hoffnung setzen sie jetzt auf ein Einwanderungsprogramm in die USA, für das sie sich beworben haben.

Schnell weg aus der Ukraine

Dass Susan und ihre Familie auf keinen Fall in der Ukraine bleiben wollen, nimmt die Sozialarbeiterin Olga von der Caritas in Ushgorod "nicht persönlich". Olga betreut die wenigen Flüchtlinge, die es in ein Asylverfahren schaffen, während dieser Zeit aber ohne jede staatliche Unterstützung auskommen müssen. "Jeder soll dorthin reisen, wohin er möchte", sagt sie: "Wenn das Leben in der Ukraine besser wäre, würden sie sicher bleiben!" So passiert es Olga aber immer wieder, dass sie ein Hilfspaket zu einer Flüchtlingsfamilie trägt, dort anstatt hilfsbedürftiger Menschen jedoch nur eine leere Wohnung antrifft.

"Unglaublich, welch armes Land die Ukraine ist", sagt auch Jamal im Lager Pavshino. Jamal kommt aus einem Dorf bei Kaipur, südwestlich der indischen Hauptstadt Delhi. Er ist schon das zweite Mal in Pavshino inhaftiert. Die slowakische Grenzpolizei hat ihn aufgegriffen und in die Ukraine zurückgeschickt. Dieses Mal ist es besser als bei seinem ersten Aufenthalt vor eineinhalb Jahren, sagt er: "Das war im Sommer und es gab kein Wasser, das war die Hölle." Jamal zeigt auf einen bunten Weihnachtsstern, der vergessen an Drähten über dem Lagerhof baumelt. "Mir geht es wie dem Stern da, ich pass auch nicht hier her", sagt er. Jamal will heim nach Indien. Seine Familie weiß noch nicht, dass er es wieder nicht geschafft hat. "Sie wissen nicht, wie es in Europa wirklich ist!" sagt er. Sie wissen nicht, dass er hier nicht einmal einen Namen hat.

Die Caritas Österreich engagiert sich im Rahmen ihrer Osteuropa-Hilfe dafür, dass Flüchtlinge in der ukrainischen Grenzregion Transkarpatien in menschenwürdigen Verhältnissen untergebracht werden. Spenden erbeten unter Kto.Nr.: PSK 7.700.004, BLZ 60.000

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