Einkaufen in der Erlöserkirche

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Rund 50.000 bedürftige Menschen in Österreich wandten sich im vergangenen Jahr hilfesuchend an die Caritas. Mit dem Projekt "Le+O" erhalten sie nicht nur Lebensmittel, sondern auch therapeutische Beratungsgespräche.

Ingrid F. kauft einmal pro Wochen ein. Die 53-Jährige besorgt sich, was sie zum Leben braucht, nicht in einem normalen Geschäft. Seit etwa einem Dreivierteljahr schiebt sie ihre blauen Ikea-Taschen mit einem Rollwagen in die Erlöserkirche in den 23. Wiener Gemeindebezirk.

Auch vergangene Woche sitzt Ingrid F. wieder im Gemeinschaftsraum hinter dem Hauptschiff. In ihrer schwarzen Jogginghose, dem grauen Fleecepullover, den hochgesteckten, blonden Haaren sitzt sie da und trinkt Kaffee. "Die wissen schon, dass wir gerne Kaffee trinken, deswegen gibt es immer frischen hier", sagt sie. Neben ihr sitzt ihre Freundin, die ebenfalls Ingrid heißt. Beide sind fast zur gleichen Zeit bei Le+O reinspaziert, vor etwa einem Dreivierteljahr, beide sind etwa gleich alt, in Frühpension und bei beiden reicht das Geld hinten und vorne nicht.

Le+O, Lebensmittel und Orientierung, ist ein Projekt der Caritas. Menschen, die es am nötigsten haben, bekommen hier, was sie brauchen. Nicht gratis, einen Euro kosten die vollen Einkaufskörbe - ein symbolischer Wert. Wer für sein Essen zahlt, behält auch seine Würde. Zehn solche Ausgabestellen gibt es in ganz Wien, zweimal am Tag wird verteilt, von Montag bis Freitag. Die Wiener brauchen viel, 29 Tonnen sind es im Monat, fast eine Tonne pro Tag.

Armut in Österreich steigt

Die Erlöserkirche erinnert jeden Mittwochvormittag an die Bilder der Nachkriegszeit. Hier stehen Menschen bis vor die Türe hinaus, in dicke Mäntel gehüllt, um Essen an. Vergangene Woche sind es mehr als zweihundert. Anderthalb Stunden stehen sie, so lange dauert die Verteilaktion. In einer Schlange schleusen sie sich an Tischreihen vorbei, auf denen die Lebensmittel liegen - alles Firmenspenden. Hier dürfen sich jene, die sich ein normales Geschäft nicht leisten können, ihre Einkaufstaschen füllen. In einem zweiten Raum bietet die Caritas noch Sozialberatung an, damit manche es vielleicht schaffen, irgendwann nicht mehr zu kommen.

Österreich wird ärmer. Mehr als 50.000 Menschen wandten sich im vergangenen Jahr mit der Bitte um Hilfe an die Caritas. "Das ist ein Viertel mehr als im Jahr davor", sagt ein sauer dreinblickender Franz Küberl, Präsident der Hilfsorganisation. Wenn er über Armut spricht, merkt man, dass sich hier für den sonst jovialen Mann der Schmäh aufhört. Küberl zählt auf, wen die Armut im Moment am meisten trifft: Ein Drittel sind Migranten, ein Drittel alleinerziehende Frauen. Kinderreiche Familien trifft es besonders, mit jedem Kind steigt die Wahrscheinlichkeit, in Armut zu leben. Die Mindestsicherung, wie sie von der Regierung beschlossen wurde, reicht Küberl lange nicht: "Mit 744 Euro kann man überleben, aber die Reparatur der Waschmaschine geht sich dann sicher nicht mehr aus, von warmer Kleidung für die Kinder gar nicht zu reden."

Weniger als 800 Euro im Monat, damit muss auch Ingrid F. ihr Leben bestreiten. Früher arbeitete sie als Schneiderin, verdiente nie sehr viel, aber genug. Vor ein paar Jahren dann zwang sie eine Schulterverletzung, mit ihrer Arbeit aufzuhören. Seitdem ist sie in Frühpension. Die Miete kostet mehr als 300 Euro, ohne Gas. Sie hat eine 13-jährige Tochter, um die sie sich kümmern muss, die Nachmittagsbetreuung in der Schule braucht und Schulsachen und Kleidung. Wer weniger als 815 Euro netto im Monat zur Verfügung hat, gilt in Österreich als arm - mittlerweile eine Million Menschen in unserem Land. Ingrid F. und ihre Tochter gehören dazu.

In ihrer Gemeindewohnung dreht sie im heurigen, kältesten Oktober seit dreißig Jahren die Heizung nicht auf. "Wir hatten letztes Jahr dreimal eine Gaspreiserhöhung. Ich gehe das Risiko nicht ein, dass ich jetzt heize, und dann kann ich die Miete nicht zahlen." Mit dieser Angst ist Ingrid F. nicht allein. Armut schafft Kälte, die Menschen sparen zuerst an den Heizkosten, dann am Essen. Mittlerweile sind es 129.000 in ganz Österreich, die in ihrer Wohnung nicht mehr anständig einheizen. Auf der Stiege von Ingrid F.s Gemeindebau sind es mehrere.

Gemeinschaft in der Not

Deswegen füllt sie ihre zwei Ikea-Säcke am Mittwoch auch immer besonders voll an. Sie nimmt auch für die anderen Parteien Lebensmittel mit. Manchen fällt das Gehen schon schwer. Auf ihrer Stiege wird zusammengehalten. Jeden Tag kochen sie in einer anderen Wohnung, dann essen sie gemeinsam. So spart man Gas. Brot friert Ingrid F. immer ein, taut es am Abend auf und kommt so für das Frühstück über die Woche. Aber an diesem Mittwoch liegt kein Brot auf den Tischen. Was in der Kirche verteilt wird, hängt immer davon ab, was die Firmen spenden.

Während Ingrid F. ihren Kaffee schlürft und erzählt, dass sie keine 15, 20 Euro für die verbilligte Monatskarte der Wiener Linien übrig hat und deswegen auch nicht zum Sozialmarkt nach Favoriten fahren kann, wird die Schlange in der Erlöserkirche nicht kleiner. Eine Frau steht hinter der Tischreihe, auf welcher Waren aufgelegt sind. Sie trägt ein rotes Caritas-Leiberl mit einem Namensschild, auf dem Susanne steht. Gut dreißig Helfer kommen Woche für Woche, um zu verteilen. Alles Freiwillige, die mithelfen wollen, im Kampf gegen die Armut. Sie stopfen die Lebensmittel in die Einkaufstaschen. Oder, wie Frau Susanne das macht, die Hygieneartikel, Seife und Duschgel und Waschmittel, denn auch dafür reicht das Geld oft nicht aus. Waren sind nicht das Einzige, das in der Kirche verteilt wird: "Viele sind frustriert, manchmal hilft da schon ein aufmunterndes Wort. Auch das muss sein", sagt Frau Susanne. "Am Anfang sind hauptsächlich Migranten zu uns gekommen. Mittlerweile kommen immer mehr Einheimische. Gut ein Drittel ist es schon." Und es werden jede Woche mehr, die von der Armut hierher getrieben werden. Auch Ingrid F. wird nächste Woche wieder kommen, um hier einzukaufen.

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