Emotionslos und wie versteinert

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Depressionen im Alter sind häufig geworden. Obwohl die Ursachen ganz unterschiedlich sein können, ist letztlich der Mensch in seiner Ganzheit von den Auswirkungen betroffen.

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Depressionen im Alter sind häufig geworden. Obwohl die Ursachen ganz unterschiedlich sein können, ist letztlich der Mensch in seiner Ganzheit von den Auswirkungen betroffen.

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Während viele Menschen, auch ältere, davon sprechen, dass sie traurig, bisweilen zu verschiedenen Unternehmungen schwer motivierbar sind, zu müde und zu unwillig erscheinen, sich aber mitreißen lassen und bewogen werden können zu gemeinsamen Aktivitäten, ist der medizinische Begriff "Depression" klar umschrieben und international festgelegt.

Mit dem Begriff "Depression" ist folgende Symptomkonstellation gemeint: eine massive emotionale Herabgestimmtheit, der Patient erlebt keine Affekte, keine Emotionen mehr, er kommt sich wie versteinert vor. Es quält ihn massive Angst - Versagensangst oder phobisch akzentuierte Beeinträchtigungen. Antriebsstörungen - im Sinne einer Hemmung der Motorik wie der Assoziationen und Gedanken oder eine innere Erregtheit mit körperlicher Unruhe und Konzentrationsstörungen machen sich bemerkbar.

Das Vegetativum ist betroffen: Obstipation oder Diarrhöe, trockene Haut und Schleimhäute oder starke Schweißausbrüche und Hypersalivation, Veränderung des Muskeltonus etwa in ein und dem selben Muskel. Und vor allem Schlafstörungen sind zu nennen: Durchschlafstörungen mit mehrmaligen Aufwachen nachts (Etappenschlaf), Schlafverkürzung im Sinne des frühen Aufwachens oder Tagesmüdigkeit und Einschlafstörungen bis in die Morgenstunden. Kognitive Beeinträchtigungen bestehen in Konzentrationsstörungen, Urteilsschwäche, Unentschlossenheit, Gedächtnisstörungen sowie Verlangsamung des Denkablaufs.

Völlige Passivität Der Denkinhalt kann bis zu wahnhaften Verdichtungen verändert sein: Verarmungswahn, Schuldwahn, Versündigungswahn, hypochondrischer Wahn, wie er sich zum Beispiel einer Angst vor einer Krebserkrankung äußern kann. Zusätzlich kann es noch zu hormonellen Störungen kommen, die in Menstruationsstörungen beziehungsweise in einer Amenorrhoe bestehen; doch Schilddrüsenhormone können betroffen sein. Es empfiehlt sich daher bei depressiven Menschen eine Kontrolle der Schilddrüsenhormone durchzuführen.

Die Libido ist bei den meisten Depressiven herabgesetzt oder stark vermindert. Die gesamte Symptomatik des älteren Depressiven ist einem Biorhythmus in der Weise unterworfen, dass sie zu irgendeiner Tageszeit besonders betont ist. Es ist demnach der ganze Mensch von diesem Leiden "Depression" betroffen. Er zieht sich zurück, stellt sich seinen Lebensaufgaben nicht mehr, läßt die Dinge geschehen, ohne dass er wie früher aktiv eingreift und mitbestimmt.

Zum Auftreten einer Depression im Alter führen viele Faktoren, die alle mehr oder weniger massiv ausgeprägt sein können: als psychische Ursachen gelten verminderte Zukunftserwartungen, gescheiterte Hoffnungen, Aussichtslosigkeit die eigene Situation betreffend. Als somatische Faktoren lassen sich körperliche Erkrankungen, Behinderungen und Abbauprozesse anführen. Letztlich sind auch die sozialen Umstände zu erwähnen: Verluste von Partnern, Freunden, Wohnungswechsel, Pensionierung, daraus resultierende zunehmende Isolation, Verlust von anregenden Erlebnissen, Eintönigkeit, Wegziehen von Kindern und Freunden und so weiter.

Diese Ursachen können sich auch bei depressiven Menschen in jüngeren Altersepochen einstellen. Hier im Alter gewinnen sie eine dynamische Facette dergestalt, dass sie in Qualität und Quantität verschieden ausgeprägt sein können und einander multiplizieren können: ein älterer Mensch, der im vierten Stockwerk eines Miethauses ohne Lift leben muss, gehbehindert ist und noch dazu an einem Herzleiden laboriert, wird notgedrungenermaßen isolierter sein, an Kontaktarmut leiden, emotional eher versteinern als ein älterer Mensch, der einen Aufzug zur Verfügung hat und deshalb seine körperlichen Beschwerden leichter kompensieren kann. Viele organische Erkrankungen im Alter wie Herzschwäche, Nierenleiden, Diabetes mellitus und so weiter gehen mit einer depressiven Beeinträchtigung einher. Man spricht dann von Begleitdepressionen.

Bei vielen anderen Erkrankungen können depressive Episoden der organischen Beeinträchtigung vorausgehen, ohne dass sich noch eindeutige Hinweise auf das organische Leiden aufzeigen lassen. Dies kann bei einigen hirnorganischen Krankheiten wie dem Morbus Parkinson und dem Morbus Alzheimer, bei arteriellem Hochdruck, auch bei Krebserkrankungen der Fall sein.

Daher ist eine klare Diagnosestellung der depressiven Störung zum Ausschluß einer organischen Erkrankung wichtig. Sie muss immer auch mit einer körperlichen Untersuchung einhergehen, damit eine körperliche Erkrankung rechtzeitig erkannt beziehungsweise behandelt werden kann.

Depression im Alter wird zwar manchmal als Mangel an Zuwendung, ja sogar als Mangel an Liebe interpretiert; bisweilen besteht der Eindruck, daß Hoffnungslosigkeit, Aussichtslosigkeit der eigenen Situation gegenüber, Hilflosigkeit und Bereitschaft aufzugeben eine nicht unbedeutenden Anteil bei der Auslösung depressiver Beeinträchtigungen aufweisen; schließlich leben wir dank positiver Emotionen, dank Zukunftshoffnung und Begegnungen, dank der Liebeszuwendung, die wir anderen geben und von anderen erhalten.

Zeit und Geduld Die therapeutischen Möglichkeiten wie Psychotherapie und Psychopharmakotherapie kombiniert eingesetzt können die Bereitschaft des Kranken, wieder Hoffnung zu schöpfen und Hilflosigkeit zu durchbrechen, steigern. Die Depression im Alter ist gut behandelbar; allerdings werden längere Zeitabstände dafür notwendig sein, um dem Gesamt der verschiedenen Faktoren therapeutisch gerecht werden zu können.

Für nicht unerheblich halte ich den Einfluss der Gesellschaft, die mit ihrer starken Leistungsorientierung dem älteren Menschen keinen Stellenwert mehr einräumt. Zuwendung, Zärtlichkeit, Begegnungsmöglichkeiten als nicht leistungsbezogene Einstellungen einzelner Menschen werden als bedeutungslos klassifiziert. Inzwischen kommt ihnen noch immer und immer wieder die allergrößte Bedeutung zu.

Der Autor ist Vorstand der Universitätsklinik für Psychiatrie in Graz.

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