Tswi und Natali Herschel - © Foto: Ruben Gischler

Erinnerungsarbeit: "Das Ziel lautet: ,Nie wieder!'"

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Der Holocaust-Überlebende Tswi Herschel und seine Tochter Natali wurden für ihre außergewöhnliche Form der Erinnerungsarbeit von der Simon-Wiesenthal-Jury geehrt. Ein Gespräch über ihr Engagement – und den Kampf gegen den Antisemitismus.

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Der Holocaust-Überlebende Tswi Herschel und seine Tochter Natali wurden für ihre außergewöhnliche Form der Erinnerungsarbeit von der Simon-Wiesenthal-Jury geehrt. Ein Gespräch über ihr Engagement – und den Kampf gegen den Antisemitismus.

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Tswi Herschel war gerade einmal sechs Monate alt, als ihn seine Eltern in Amsterdam in die Obhut einer nichtjüdischen Pflegefamilie gaben, um sein Leben zu retten. Sie selbst wurden im Juli 1943 im Vernichtungslager Sobibor ermordet. Erst mit acht Jahren hat Herschel diese seine Geschichte erfahren. Heute erzählt er sie gemeinsam mit seiner Tochter Natali auf Vortragsreisen, um die Erinnerung an die Schoa wachzuhalten. Im Rahmen der Vergabe des zweiten Simon-Wiesenthal-Preises wurde Herschel, der mit seiner Familie 1986 nach Israel ausgewandert ist, im März im österreichischen Parlament geehrt. DIE FURCHE hat mit ihm und seiner Tochter gesprochen.

DIE FURCHE: Anlässlich von Jahrestagen hat das Thema Erinnerung stets Konjunktur. Wie empfinden Sie den Alltag der Erinnerung in Ihren Vortragsreisen?
Natali Herschel: Jedes Mal, wenn ich einen Vortrag halte und unsere Familiengeschichte erzähle, stecke ich alles, was ich habe, hinein. Mein Ziel ist es, die Herzen der Menschen zu erreichen. Und ich denke, das gelingt auch.
Tswi Herschel: Es ist immer emotional, wenn wir irgendwo unsere Präsentation halten. Das liegt nicht nur an unserer Geschichte und der Schoa, sondern auch am Antisemitismus, der noch immer überall auf der Welt zu finden ist. Es ist unvorstellbar! Ein winziges Land, das man auf dem Globus kaum sieht, ein Volk von 15 Millionen Menschen – und jeder Schritt wird wie durch ein Elektronenmikroskop beobachtet.

DIE FURCHE: Tswi, Sie sind ein Brückenbauer – und zugleich ein scharfer Warner vor heutigem Antisemitismus ...
Tswi: Beides hängt zusammen. Wenn wir in den Niederlanden sind, benenne ich dort, dass der niederländische Staat mit seinen Beamten und seiner Polizei beteiligt war an der Ermordung der Juden – und das waren nicht einige wenige, sondern der höchste Prozentsatz in Westeuropa. Zugleich brauchen wir offene Hände, um zum Wohl der Menschheit Brücken zu bauen.

DIE FURCHE: Als Vater-Tochter-Duo haben Sie einen sehr speziellen Zugang beim Thema Erinnerung. Wie kam es dazu?
Tswi: Bei einer internationalen Konferenz untergetauchter Kinder in Houston 2001 kam ich in Kontakt mit einer Kuratorin des Holocaust-Museums in Washington. Sie war interessiert an Tagebüchern meines Vaters – und einem Lebenskalender, den er zu meiner Geburt für mich gemalt hatte. Der wurde das Prunkstück einer Ausstellung über untergetauchte Kinder. Nach einer Veranstaltung im Museum sagte Elie Wiesel zu mir: „Du kannst junge Leute inspirieren mit deiner Geschichte. Erzähle sie weiter!“ Ich begann mit Lesungen bei Yad Vashem. Später wurde dann eine Power Point- Präsentation daraus, ab dann war Natali eigentlich der Motor.
Natali: Anfang 2009 war das, damals hatten wir die erste Einladung nach Deutschland. Ich komme aus dem Business Development im High Tech-Bereich und arbeitete immer sehr kreativ. Also entwickelte ich eine Präsentation auf Basis des genannten Lebenskalenders. Aber mein Vater und ich waren schon immer viel zusammen unterwegs. Wenn ich keine Schule hatte, ging ich überall mit ihm hin. Wir hatten immer lange Gespräche im Auto.

DIE FURCHE: Wie wurde dann die Perspektive der Zweiten Generation, der Kinder der Überlebenden, Teil Ihrer Vorträge?
Natali: Am Anfang spielte ich eher eine Rolle im Hintergrund. Ab und zu wurden mir auch Fragen gestellt, wie das so ist als Zweite Generation. Mir wurde klar, dass es eine Lücke gibt, was Informationen darüber betrifft – also habe ich mich auf die Auswirkungen des Holocaust auf folgende Generationen spezialisiert. In meiner Umgebung gibt es viele Angehörige der Zweiten Generation. Wir sind die Kinder ohne Fotoalben und Familienporträts an der Wand. Im Kindergarten sah ich, wie die anderen von ihren Großeltern abgeholt, umarmt und geküsst wurden. Abends traf mich dann die Realität, dass in meinem Leben etwas Wesentliches fehlte.

DIE FURCHE: Damit rückt die Frage nach den dezimierten Familien der Überlebenden ins Blickfeld. In Ihrem Vortrag taucht häufig die Frage auf: „Wo ist meine Familie?“
Natali: Ich fühle als Tochter eines Überlebenden eine Art Berufung: Ich will, dass jeder weiß, dass anderthalb Millionen Kinder einfach ermordet wurden. Für sie stehe ich dort! An sie müssen wir uns erinnern. Sie durften nicht die Erfahrung haben, selbst Kinder zu bekommen. Für mich war es daher sehr wichtig, eine Familie zu gründen – damit meine Kinder wieder eine haben. Mein Sohn sagte übrigens schon zu meinem Vater: „Opa, wenn du es nicht mehr tun kannst, mache ich weiter.“
Tswi: Für mich ist es eine große Unterstützung, dass ich dort nicht alleine stehe, sondern Natali als Vertreterin der zweiten Generation ihre Perspektive dazu geben kann.
Natali: Ich denke, dass mein Teil die Botschaft meines Vaters verstärkt. Dadurch realisieren die Menschen, was das Erbe und die langfristigen Auswirkungen des Holocaust bis heute bedeuten. Mir ist es dabei wichtig, das Ganze an mein eigenes Leben zu koppeln. Wenn man einfach nur die Geschichte seines Vaters oder seiner Mutter nacherzählen würde, könnte man genau so gut einen Film zeigen. Die Frage ist: „Wie bringt man das rüber, sodass es interessant bleibt – auch von Eltern, die nicht mehr da sind?

DIE FURCHE: Zeigt sich darin auch, dass sich die Art der Erinnerung verändert?
Tswi: Im Lauf der Jahre vervollständigen wir unsere Perspektive, und dazu gehört auch Natalis Teil zur Zweiten Generation. Wir haben auch noch eine weitere Präsentation über die Traumata untergetauchter Kinder – und in letzter Zeit kommen wir auch mit Nachfahren der Täter ins Gespräch. Wir müssen Brücken bauen, und das ist einer ihrer Pfeiler. Dazu kommt: Die Nachfahren der Kriegsverbrecher ringen auch mit diesem Thema.

DIE FURCHE: Wie schwer fällt Ihnen dieses Brückenbauen?
Tswi: Natürlich habe ich früher die Deutschen gehasst. Ich kaufte keine deutschen Produkte. Aber langsam wuchs die Idee, dass ich darauf nicht mein Leben aufbauen kann. Hass ist eine negative Energie. Ich habe mich nie als Opfer gefühlt, sondern als Überlebender. Ich bin sehr froh, dass ich als solcher vor der Jugend den Mund aufmachen kann. Es geht um ihre Zukunft – und um die meiner Familie.

DIE FURCHE: Was hat Ihnen die Ehrung der Simon-Wiesenthal-Preis-Jury bedeutet?
Tswi: Das ist eine sehr bedeutende Anerkennung meiner Arbeit. Dass gerade die Simon-Wiesenthal-Jury sieht, wie wichtig sie ist, gibt mir Antrieb, sie fortzusetzen.

DIE FURCHE: Hatten Sie bislang schon Kontakt nach Österreich?
Tswi: In Yad Vashem haben österreichische Lehrer unseren Vortrag besucht. Aber durch den Preis haben wir nun natürlich auch einen neuen Zugang zu Österreich bekommen – und Kontakte geknüpft, um auch dort unsere Arbeit machen zu können.

DIE FURCHE: Wie beschreiben Sie zusammenfassend das Ziel ihres Engagements?
Natali: Die Menschen sollen sich damit auseinandersetzen, wie es möglich war, Millionen Juden zu ermorden. Mich als Kind eines Überlebenden beschäftigt das Unverständnis darüber mein ganzes Leben lang. Damit umzugehen, geht nur durch Bildung – doch das erfordert mehr als ein Geschichtsbuch oder einen Film. Die Leute, die unsere Präsentation sehen, betrachte ich als unsere Botschafter, die das weitergeben, was sie dort erfahren.
Tswi: Es geht darum, auf Basis der Schoa die Leute wachzurütteln, sodass sie nicht diskriminieren. Wir wollen ihnen etwas mitgeben – nicht nur eine Geschichte erzählen, von der sie sagen: „Oh, wie schrecklich!” Es geht um ein konkretes Ziel: „Nie wieder!“

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