"Es gibt eine Hierarchie der Sprechangst"

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Ich möchte den Druck nehmen, das Stottern unbedingt wegbekommen zu müssen. Aber Stigmatisierungen sind sicher entfernenswert. (Petra Nickel)

Das ist ja das Tragische: Man sieht und spürt beim Singen, dass man eigentlich flüssig sprechen könnte, aber es funktioniert dennoch nicht. (Birgit Gohlke)

Als Birgit Gohlke den Film "The King' s Speech" über den britischen König George VI. sieht, reißen alte Wunden auf. Gemeinsam mit der Logopädin und Kulturschaffenden Petra Nickel beschließt die Theaterwissenschafterin, einen Dokumentarfilm über das Stottern zu drehen -ein Phänomen, von dem nicht nur sie selbst betroffen ist, sondern auch fünf Prozent aller Kinder und ein Prozent aller Erwachsenen (darunter mehrheitlich Männer). Das Ergebnis, "Mein Stottern", kommt nun in die Kinos.

Die Furche: Frau Gohlke, warum hat Tom Hoopers Film "The King's Speech" Sie 2010 so bewegt?

Birgit Gohlke: Weil man sich davor über stotternde Menschen meist nur lustig gemacht hat, bestes Beispiel dafür ist der Film "Ein Fisch namens Wanda". In "The King's Speech" war es das erste Mal, dass die Hauptfigur gestottert hat, und zwar so ernstzunehmend und gut dargestellt, dass man Hauptdarsteller Colin Firth das wirklich abgenommen hat. Als er ganz am Anfang versucht hat, vor einem riesigen Publikum zu sprechen, konnte man die Panik in seinen Augen sehen. Das hat mich im Kino völlig überrumpelt.

Petra Nickel: Colin Firth hat das sehr gut imitiert, denn eigentlich kann man ja nicht absichtlich stottern, weil es hier um eine unwillkürliche Unterbrechung der Stimmbandschwingung geht, quasi einen neurologischen Wackelkontakt. Es gibt ja leider bis heute das Vorurteil, dass Stottern psychologische Ursachen habe, was oft zu Stigmatisierungen führt. Dabei wissen wir, dass hier einfach zwischen jenem Bereich des Gehirns, der für Formulierungen zuständig ist, und jenem, in dem die motorische Planung und Umsetzung ausgelöst wird, weniger Nervenverbindungen existieren. Und das führt dazu, dass der Sprechprozess störungsanfälliger wird und es eben zu Unterbrechungen der Stimmbandschwingungen bei Vokalen kommt.

Die Furche: Das Problem besteht also bei den Vokalen -und nicht bei Konsonanten am Wortanfang?

Nickel: Phoniatrische Stimmband-Untersuchungen haben das jedenfalls gezeigt. Es kommt zwar teilweise auch bei Konsonanten zu einer erhöhten Spannung, aber eher deswegen, weil stotternde Menschen aus der Erfahrung, dass jetzt gleich das Problem auftritt, intuitive Aktionen setzen.

Die Furche: Ab wann kann man eigentlich von Stottern sprechen? Sprechunflüssigkeiten gehören ja zum Reden dazu, kaum jemand kann druckreif sprechen.

Nickel: Erstens spürt man das normalerweise deutlich, außerdem bezieht sich echtes Stottern eben auf diese unwillkürlichen Unterbrechungen und nicht auf die Wiederholung ganzer Wörter oder auf Artikulationsprobleme bei schwierigen Begriffen. Man unterscheidet jedenfalls drei Stotter-Varianten: Blockaden, Wiederholungen und Dehnungen.

Die Furche: Volker, ein Protagonist Ihres Films, erklärt, dass er als Jugendlicher in der Peergroup kaum gestottert hat, bei Lehrern aber sehr. Ist das typisch, Frau Gohlke?

Gohlke: Wenn ich in einem Umfeld bin, in dem ich mich wohl fühle, kann es tatsächlich sein, dass das Stottern schwächer ist. Und wenn ich irgendwo bin, wo ich mich fremd fühle, kann die Stottersymptomatik verstärkt werden.

Nickel: Es kann aber auch umgekehrt sein: Manche haben mehr Symptome, wenn sie sich geborgen fühlen, weil sie die Symptome dann weniger vermeiden müssen.

Die Furche: Das nennt man offenbar "Nettostottern"...

Gohlke: Ja, das ist das reine Stottern ohne die Symptome rundherum: etwa das Mitbewegen des Kopfes oder das Schließen der Augen. Bei mir ist es dieses Glucksen, das ich irgendwann unterbewusst entwickelt habe und das manche für einen Schluckauf halten.

Die Furche: Und welche Techniken gibt es, um Stottern zu reduzieren?

Nickel: Es gibt unterschiedliche. Im Film kommt die Modifikationstherapie vor, bei der es darum geht, mit Stellen, an denen wirklich Symptome auftreten, auf verschiedene Weisen umzugehen, ihnen vorzubeugen oder anstrengungsärmer durchzukommen. Es gibt auch das Fluency-Shaping, bei dem man die gesamte Art des Sprechens verändert, sie rhythmisiert und versucht, tönend zu sprechen. Die rein auf Atemtechnik basierenden Zugänge sind zwar kurzfristig sehr effektvoll, aber nur selten nachhaltig. Und dann gibt es noch Heilsversprechen durch Bachblüten, Handauflegen oder Hypnose, die ich aber nicht für seriös halte.

Die Furche: Benedikt, ebenfalls ein Darsteller im Film, kann großartig singen, stottert aber stark. Wie kann es das geben?

Nickel: Einerseits befinden sich die Areale für das Singen in der anderen Gehirnhälfte und nicht im sprachdominanten Bereich. Und zum anderen ist es immer eine Hilfe, wenn man mit Rhythmus oder Melodien arbeitet. Aber leider hilft Singen nicht, besser zu sprechen.

Gohlke: Das ist ja das Tragische: Man spürt hier, dass man eigentlich flüssig sprechen könnte, aber es funktioniert dennoch nicht.

Die Furche: Ist es richtig, dass Stottern ab der Pubertät kaum mehr wegzukommen ist?

Nickel: Ab der Pubertät sind die Hirnreifungsprozesse tatsächlich schon sehr fortgeschritten. Mir ist aber wichtig, insgesamt den Druck zu nehmen, dieses Stottern unbedingt wegbekommen zu müssen. Die Stigmatisierungen sind hingegen sicher entfernenswert.

Die Furche: Hat man sich über Sie lustig gemacht, Frau Gohlke?

Gohlke: Das kam natürlich vor, und es war immer ein kleiner Schockmoment. Da stellt sich jemand in der Pause neben dich hin und stottert dir was vor Meine Eltern haben mich hier immer sehr getröstet. Es dauert aber, bis man offen dazu stehen und sagen kann: Nein, ich habe keinen Schluckauf, nein ich muss jetzt nicht gerade nachdenken und bin auch nicht betrunken, sondern ich stottere! Diesen Schritt aus der Ohnmacht habe ich gebraucht.

Die Furche: Besonders geärgert haben Sie sich über Leute, die Ihre Sätze zu Ende sprechen

Gohlke: Ja, weil mir dadurch das Wort aus dem Mund genommen und das Gefühl gegeben wird, dass ich nicht sagen kann, was ich sagen will. Aber ich weiß das schon, es dauert halt eine Zeit, und die muss sich der andere nehmen.

Die Furche: Was sollen Eltern beachten, deren Kind stottert?

Nickel: Wenn man selbst beunruhigt ist, sollte man es schon ernst nehmen und benennen. Man kann ja sagen: Ui, jetzt bist du aber hängen geblieben. Ab einem Alter von drei bis vier Jahren bekommen die Kinder ja selbst mit, dass da etwas anders ist. Gerade in der Beratung ist es auch wichtig, dieses Tabu zu reduzieren, indem man endlich über das sprechen darf, was eh für alle spürbar ist.

Bekannte haben mir einmal gesagt:'Hättest halt Luft geholt ordentlich!' Da kam eine riesige Aggression in mir hoch. Ihr wisst doch nicht, wie das ist! (Birgit Gohlke)

Gohlke: Man soll über das Stottern offen reden -wir haben das auch zuhause macht -, aber man soll es nicht ständig thematisieren. Ich erinnere mich daran, dass mir einmal Bekannte meiner Eltern am Telefon gesagt haben: "Hättest du jetzt halt Luft geholt ordentlich!" Da kam eine riesige Aggression in mir hoch, ich dachte: Ihr wisst doch nicht, wie das ist! Ich war auch mit 17 Jahren noch einmal bei der Logopädie, aber irgendwann habe ich gemerkt, dass mich das Stottern eben begleitet und dass ich am besten damit zurecht komme, wenn ich offensiv damit umgehe.

Die Furche: Und wie sollen Lehrkräfte damit umgehen?

Nickel: Wenn schulpflichtige Kinder in Therapie sind, werden die Lehrkräfte meist eingebunden. Eine Kollegin rät etwa, dass Kinder selbst Referate über das Thema Stottern halten sollen. Wichtig ist, dass man es thematisiert und individuelle Lösungen sucht. Man kann ein Referat auch nur unter vier Augen mit dem Lehrer halten oder es aufzeichnen. Es gibt ja eine Hierarchie der Sprechangst, nicht jede Situation ist gleich schwierig.

Gohlke: Vor Leuten zu sprechen war für mich schon schwierig, aber wenn einen die Klasse gut kennt, ist es auch wieder egal. Ich habe mir später auch manchmal erlaubt, den Lehrer zu fragen, ob ich diesmal kein Referat halten oder kein Gedicht aufsagen muss. Und an der Uni habe ich bei Gruppenreferaten meinen Teil manchmal delegiert. Aber ich habe das Stottern immer zum Thema gemacht.

Die Furche: Sie haben am Anfang Ihres Filmes gesagt: "Ich will mich endlich ganz mit meinem Stottern versöhnen." Ist das gelungen?

Gohlke: In gewisser Weise schon. Besonders beeindruckend war das Gespräch mit Benedikt, der so souverän mit seinem Stottern umgeht, dass ich mich für meinen eigenen Schmerz von damals fast geschämt und mich gefragt habe: War das wirklich so schlimm? Auch die Geburt unserer zwei Kinder hat viel relativiert. Und das ist gut so.

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