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Plädoyer für ein radikales Ernst-Nehmen des Lebens vor dem Tod aus christlicher Sicht.

Auch wenn man nicht mehr an Gott glaubt, so glaubt man doch, dass der Kanarienvogel nach seinem Dahinscheiden genauso im "Himmel" ist wie der verstorbene Großvater: Gelegentlich spüre ich den Geist beider, wie eine vorbeiziehende feinmaterielle Wolke, meinen Nacken streifen - und eine wohlige Gänsehaut befällt mich. Wenn der Kanarienvogel um 16.30 MEZ den Gang in die Anderswelt angetreten ist, dann darf ich um 17.30, eine Stunde später, schon mit solchen feinmateriellen Kalamitäten rechnen …

Ist das so weit weg? War nicht zu Allerheiligen und Allerseelen ein "Ablass" zu gewinnen, dank dessen etwa "300 Tage Fegefeuer" nachgelassen wurden?

In der Mutation der christlichen Allerheiligen- und Allerseelenrituale zu einem aus dem angelsächsischen Raum einsickernden Gespensterfest ("Halloween") sehe ich den Kristallisationspunkt einer Wiederkehr des Animismus.

Unendliche Verlängerung?

Der Gedanke, dass mit dem Tod "alles aus" sei, hat folglich nicht den Siegeszug angetreten, den man ihm noch vor einigen Jahren zugetraut hätte, auch wenn ihn nicht wenige unserer Zeitgenossen vertreten, neben den vielen anderen, die gar nichts vertreten, denen eigentlich egal ist, "wie und ob es weitergeht" nach dem Tod. Die naiv-zeitlichen Vorstellungen vom "Leben nach dem Tod" mögen sich im Lauf der Zeit verändert haben, ausgestorben sind sie nicht.

Kann man sich als gläubiger Christ Tod und Unsterblichkeit auch anders als animistisch denken - "unzeitgemäßer"?

Mit dem Tod ist für mich das Leben zu Ende. Man muss den Mut haben, und der Glaube an Gott verleiht einem diesen Mut, zu sagen: "Es ist aus." Tot ist tot. Wenn mich mein Großvater um 16.30 mit seinen Augen das letzte Mal anlächelte und um 17.00 starb, dann schaut er nicht ab 17.30 - mit welchen Augen denn auch? - von oben auf mich herunter. Warum soll man den Tod als Christ nicht ernst nehmen? "Ewigkeit" wird von vielen Christen als eine unheimliche unendliche Verlängerung des zeitlichen Daseins betrachtet. Als eine unheimliche "Verlängerung des Rätselhaften" ins Unendliche. Wittgenstein meinte einmal: "Wird denn dadurch ein Rätsel gelöst, dass ich ewig fortlebe? Ist denn dieses ewige Leben dann nicht ebenso rätselhaft wie das gegenwärtige? Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit." Ist "Ewigkeit" nicht absolutes "Zugleich"? "Zeitloses Jetzt" (Plotin). So gesehen ist jeder Moment meines Hintereinander-Lebens "aufgehoben" im Zugleich der Ewigkeit, ein Teilaspekt der Ewigkeit.

Ich brauche kein Leben nach dem Tod. Ich glaube an das Leben vor dem Tod.

Verfehlte Gegenwart

Nicht insofern es einfach "alles" ist -, sondern insofern es genau jenes Leben ist, das über Geburt und Tod erhoben werden soll; nicht kraft seiner selbst, sondern kraft einer göttlichen Macht, die es auf diese höhere Ebene "hinaufhievt". "Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt", sagt Wittgenstein. Ich verfehle die Ewigkeit in dem Maße, als ich den gegenwärtigen Augenblick verfehle. Ganz im Sinne der Antwort, die ein Zen-Meister auf die Frage gegeben hat, was Zen sei: "Wenn ich esse, esse ich; wenn ich sitze, sitze ich; wenn ich gehe, gehe ich." Darauf entgegneten verwundert die Fragenden: "Das tun wir doch täglich auch!" Darauf der Meister: "Nein, wenn ihr esst, steht ihr schon auf; wenn ihr sitzt, geht ihr schon …"

Gibt es nicht eine "christliche" Verachtung des gegenwärtigen Augenblicks vor lauter Sehnsucht nach dem "Himmel", der zeitlich "nach" diesem Leben kommen soll? Könnte es sein, dass man die Ewigkeit, die im jetzigen Augenblick anhebt, verfehlt, indem man sich nach einem solchen Halloween-Gespenster-Himmel sehnt?

Jeder Moment des Lebens ist in meinen Augen "aufgehoben" als unzerstörbare Information. Der Gottesglaube könnte ein Tor öffnen, die Möglichkeit einer "Reaktivierung" bzw. "Revitalisierung" dieser Information auf einer anderen Ebene anzunehmen. Die Seele denke ich mir als die Melodie meines Lebens. Mit dem letzten Akkord endet diese Melodie. Sie verklingt, um höchstens nachzuklingen in den Erinnerungen der Menschen. Aber wenn es eine höchste Intelligenz, genannt "Gott", wirklich gibt, dann hat auch er vielleicht "Erinnerung". Meine Seele, meine Lebensmelodie, klingt dann irgendwie weiter in den ewigen Gedanken Gottes, der sie auf irgendeine Weise, nicht jedoch in einem zeitlichen "Nachher", etwa in 3000 Jahren, sondern auf einer ganz anderen Ebene in einer gleichsam anderen Tonart zum Wiedererklingen bringen kann: Auferstehung! Man könnte die musikalische Metapher auch anders wenden. Auferstehung heißt dann: Was in Zeit und Geschichte an verschiedenen Tönen nacheinander erklungen ist, wird schließlich von Gott in einem einzigen zugleich erklingenden Akkord zusammengefasst.

Halloween-Taumel

Auf einer ganz anderen Ebene, und nicht irgendwann in der Zukunft dieser unserer Weltgeschichte, passiert "Auferstehung". Sinn des Lebens ist es, denke ich mir, mich um "Konsonanzen", um "Ein- und Wohlklang" zu bemühen, aber auch die "Dissonanzen" haben ihren Platz und melodischen Reiz. Von den biblischen Grundlagen her gesehen sind solche Gedankenspielereien wohl nicht ganz abwegig. Erscheint doch der Auferstandene nach dem Evangelium mitsamt seinen "Wunden", die ihm in seinem Leben vor dem Tod zugefügt worden sind (vgl. Joh 20,25.27). Vielleicht darf man dies als Hinweis verstehen: Auferstehung bedeutet nicht zukünftiges Fortleben in einem feinmateriellen Zustand, irgendwo im interstellaren Raum als Gespenst herumzuschwirren, sondern "Rettung" des ganzen Lebens, so wie es eben gelebt, gelungen und misslungen ist, auf einer anderen Ebene. So wie eine Melodie von einer Tonart in die andere transponiert oder wie eine Reihe von Tönen in einem Akkord zusammengefasst wird. "Unsterblichkeit" bedeutet nicht, dass nach dem Schlusstakt die Melodie irgendwie weitersäuseln würde, wie ein nie ganz verhallen könnendes Echo. Mit dem Tod ist vielmehr, zeitlich gesehen, das Leben aus, zu Ende, mehr oder weniger voll-endet, aber nicht absolut "aus". Zum einen bleibt alles, was ge- und erlebt worden ist, die Highlights wie die Schrammen, unzerstörbare "Information" (abgesehen von den geschichtlichen Wirkungen, die jedes Leben hinterlässt). Zum anderen könnte diese, für sich gesehen, "tote Form" dank einer göttlichen Kraft, genannt "Liebe", in einer total anderen, dem Nacheinander der Zeit völlig entrückten Dimension ins Dasein gehoben werden.

Welche Religion einer wählt, hängt davon ab, welcher Mensch er ist. Der eine wird es mehr mit den Seelen der Verstorbenen wie mit Gespenstern halten, der andere mehr mit der Auferstehungshoffnung. Letztere scheint sowohl den Tod wie auch das Leben ernster zu nehmen. Beide, Tod und Leben, verkümmern im Halloween-Fiebertaumel zu kindischen Klamaukgestalten - entsprechend einer ungeschminkt kommerzialisierten Kinder-Giga-Party.

Der Autor ist Benediktiner der Erzabtei St. Peter in Salzburg.

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