"Es sind die Lebensgeschichten der Pflegebedürftigen, die mich faszinieren"

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Die furche schaute sich verschiedene Pflegeformen an und erhielt einen kleinen Einblick in den komplexen Alltag der Betreuung alter Menschen in Wien.

Ein lautes Klopfen hallt durch das Stiegenhaus. Pflegehelferin Silvia Kaden läutet und klopft abwechselnd, dazwischen versucht sie es mit Anrufen. Sie tippt die Nummer ins Handy, in der Wohnung, vor der sie steht, hört sie das Klingeln; trotzdem - aus der Wohnung ist kein Geräusch zu vernehmen, das darauf hinweisen würde, dass die alte Dame, die sie besuchen soll, aus ihrem tiefen Schlaf erwacht ist.

"Sie hört sehr schlecht, sie schläft sehr tief", erklärt Silvia Kaden ruhig, sie klopft weiter, ohne äußeres Zeichen von Nervosität. Und wenn die Dame nicht aufmachen würde? "Dann komm ich etwas später wieder", sagt die Pflegehelferin des Roten Kreuzes, die der 90-jährigen pensionierten Richterin die tägliche Insulinspritze verabreichen soll.

Sturmläuten am Morgen

Und was ist … man wagt den Satz nicht zu Ende zu sprechen. Bevor man ihn zu Ende denkt, sieht man ein Lächeln auf Kadens Gesicht. "Sie kommt." Es ist 6.30 Uhr, der Frühverkehr am Währinger Gürtel im Hintergrund, leise Tritte hört man aus der Wohnung. - Pflegehelferin Kaden startet ihre Tour der mobilen Hauskrankenpflege. Die alte Frau im Nachthemd öffnet verdutzt die Tür. "Ja, was ist denn los? So ein Sturmläuten habe ich noch nie erlebt", sagt sie verwirrt. Frau K. lebt alleine in ihrer stilvollen Wohnung. Morgens kommt die Pflegehelferin, sie hat eine Heimhilfe, zudem besuchen sie ihre drei Kinder täglich. "Ich möchte möglichst lange zuhause leben", meint die zierliche Dame. "Ich schäme mich, so alt zu sein." Silvia Kaden besucht drei bis fünf Pflegebedürftige am Tag. Die 45-jährige Wienerin ist seit 16 Jahren beim Roten Kreuz, zuvor war sie lange Heimhilfe (Unterstützung im Haushalt), nach einer einjährigen Pflegehelferausbildung ist ihr Aufgabengebiet nun Körperpflege, Hilfe bei Medikamenteneinnahme, Essensversorgung und daneben viel Kommunikation.

Gut gelaunt wird sie von Frau H. begrüßt. Durch einen Sicherheitscode vor der Tür kann die Pflegehelferin in die Wohnung. Frau H. kann nicht selbst öffnen. Sie braucht Hilfe beim Waschen, bei der Intimpflege; Silvia Kaden richtet ihr das Frühstück. Die 67-Jährige sitzt fröhlich in ihrem Bett, der Rollstuhl davor. Auf die Frage, warum sie nicht mehr gehen könne, zieht sie die Bettdecke mit Tigermuster etwas zurück: Ihre Beine sind amputiert. "Ein Unfall, ich kann mich nicht erinnern. Ich wollte zur Straßenbahn gehen und dann … ein Lastwagen hatte die Ampel übersehen. Später kam der Fahrer mich besuchen, er wollte sich entschuldigen. Ich habe gesagt:, Lassen wir es gut sein.' Ich will nicht jammern, mir geht es gut, ich werde gut betreut." Außer der Pflegehelferin, die dreimal am Tag vorbeikommt, wird sie von ihrer Tochter versorgt, deren Wohnung darunter liegt. "Sie ist so ein braves Kind."

Der nächste Fall sei schwieriger, sagt Kaden. Die alte Frau will nicht mehr essen und trinken, ein Problem, das bei vielen hochbetagten Menschen auftritt. Frau W. ist bettlägrig. Am Vortag hat sie erbrochen, die Pflegehelferin war glücklicherweise noch da, sonst hätte die 91-Jährige eine Zeit lang im Erbrochenen liegen müssen, bis eines ihrer Kinder gekommen wäre, die abwechselnd jeden Tag vorbeischauen. "Ins Pflegeheim? Nein, ich möchte so lange es geht, zuhause sein. Ich brauche keine Gesellschaft. Ich liege hier, lese die Zeitung und wenn ich schlafe, träume ich, dass ich draußen spazieren gehe," sagt die hagere Dame und beschwert sich noch über eine andere Pflegehelferin, die unfreundlich gewesen sein soll.

Inzwischen beginnt für Elke Rauch ihre Pflegevisite im dritten Bezirk. Die diplomierte Krankenpflegerin arbeitet für Caritas Socialis, eine weitere Pflegeeinrichtung in Wien. Die 35-Jährige, die lange in einem Pflegeheim und in der Hauskrankenpflege tätig war, ist nun für Qualitätskontrolle zuständig. Sie besucht die Klienten und evaluiert Betreuungsleistungen; sie achtet darauf, ob sich Pflegebedingungen verändert haben.

Kleine Erfolge

"Im Großen und Ganzen passt immer alles," so ihr Resümee. An diesem Tag besucht sie Frau A. In Rot gekleidet sitzt die 77-Jährige auf ihrem Bett, die Beine stark geschwollen, und erzählt von ihrem Leben. Es gibt auch einen kleinen Erfolg zu verzeichnen. Frau A. kann sich nun selbst auf den Leibstuhl setzen, zuvor war sie ans Bett gefesselt. "Es sind die Kleinigkeiten, die motivieren," sagt Rauch. Sie ist Ansprechperson für ihre Pflegekräfte, zudem wickelt sie die Organisation im Hintergrund ab; etwa die Gespräche mit Angehörigen, die zwischen Schuldgefühlen und Überfürsorglichkeit schwanken.

"Ich liebe meinen Beruf", meint Elke Rauch. "Es sind die Lebensgeschichten, die mich faszinieren, ich sauge sie auf." Sie erzählt von der starren Struktur in einem Pflegeheim. "In der Hauskrankenpflege muss ich mich anpassen." Wie zum Beispiel an die unterschiedliche Einstellung zu Ordnung und Sauberkeit. Die Wohnung von Frau A. ist vollgeräumt und etwas verwahrlost. "Frau A. fühlt sich wohl, und das ist entscheidend. Sie will nicht, dass ihre Kinder aufräumen. Natürlich ist es ein schmaler Grat zwischen Hygieneumständen, die nicht mehr hingenommen werden können, und individuell erwünschter Unordnung", erklärt sie kniffelige Probleme. "An die schlechten Gerüche kann man sich schwer gewöhnen. Da muss man professionell damit umgehen. Wenn jemand erbricht oder Durchfall hat, natürlich ekelt es einen, aber man muss seine Gefühle zurückhalten", sagt die Krankenpflegerin.

Falsche Freunde

Den nächsten Klienten, Herrn S., wollten ihre Kollegen zunächst nicht betreuen. Die Wohnung des langjährigen Alkoholikers war extrem verwahrlost. Doch Pflegerin Rauch bestellte den Putzdienst für eine grobe Reinigung. Man versuchte es und es läuft gut. Probleme machen die so genannten "Freunde", die an der Pension des 57-Jährigen mitnaschen wollten. Als Elke Rauch Herr S. besucht, wird er gerade von seiner Heimhilfe zum Esstisch geführt, er bricht fast zusammen, so unsicher geht er. Er isst Erdäpfel mit Wurst und zeigt Kinderfotos und Rapid-Fanartikel. Sie plaudert mit dem alleinstehenden Herren, der sich mit dem Sprechen schwer tut, sieht nach dem kaputten Fernseher, blättert in seiner Pflegemappe, in der jeder Pflegeaufwand genau dokumentiert wird.

"Wenn eine Pflegekraft in eine Wohnung kommt, fehlt es nicht selten an Grundlegendem im Haushalt. Der Kühlschrank ist leer, der Abfluss verstopft. Da muss eben die Heimhilfe zupacken, das wird stark unterschätzt", erklärt Christine Hintermayer, Chefin der Mobilen-Pflege von Caritas Socialis. Manche Patienten, wie der vorher genannte Herr S., haben einen Sachwalter für ihre Finanzen, weil sonst immer wieder Geld versickert. Die finanzielle Abwickelung aller zu Pflegenden läuft über den "Fonds Soziales Wien" nach sozialer Staffelung.

Herr L. sitzt an einem Computer und löst Rätsel über Sehenswürdigkeiten, was die Gedächtnisleistung fördern soll. Der 61-Jährige wirkt rüstig und freut sich über jede richtig gelöste Aufgabe. "Super" oder "Bravo" tönt es aus dem Computer. Herr L. besucht das Tageszentrum der Caritas Socialis am Rennweg. "Er ist unser fittester", sagt sein Pfleger, der motivierend daneben sitzt. "Im Tageszentrum geht es darum, den Menschen eine Tagesstruktur zu geben und Fähigkeiten möglichst lange zu erhalten, um einen Pflegeheimeintritt hinauszuzögern", sagt Max Weber, Leiter das Tageszentrums, das eine geriatrische und eine Alzheimer-Gruppe umfasst. Angeboten werden kreative, gesellige und gedächtnisfördernde Aktivitäten. "In der Alzheimer-Pflege stehen Wohlbefinden und Stabilität im Vordergrund", erklärt Weber, der seit zwölf Jahren die Abteilung leitet.

Die Gäste kommen gegen acht Uhr und fahren spätestens um 16 Uhr wieder nachhause, wo sie meistens zusätzlich durch eine Heimhilfe oder durch Angehörige versorgt werden. "Es ist nicht selten, dass ein Tagesgast unfreiwillig kommt. Meist machen Angehörige Druck, weil sie den alten Menschen nicht allein lassen wollen. In solchen Fällen raten wir einfach, es zu probieren. Man kann auch nur einmal die Woche kommen. Die meisten werden durch das Programm überzeugt."

Beispielsweise wird Musiktherapie angeboten. Alzheimer-Tagesgäste sitzen im Kreis und können mit Orff-Instrumenten Gefühle zum Ausdruck bringen. Musiktherapeut Martin Seidl spielt und singt zur Gitarre. Frau T. will es "turbulent". Ein anderer Alzheimer-Patient, der starr auf seinem Sessel sitzt, will ein Lied aus seiner Heimat hören, aus Tirol. "Musik spricht den emotionalen Bereich direkt an. Gerade bei Alzheimer-Patienten sind Bezüge zum eigenen Selbst gestört. So kann ein Kontakt zu sich selber hergestellt werden", erklärt Seidl: "Ich schätze die erfüllten Lebensgeschichten, schwierig ist der Umgang mit dem Tod." Lautsein ist in der Musiktherapie gefragt. Frau T. wünscht sich lautes Trommeln. "Es gefällt mir sehr gut im Tageszentrum", sagt die 85-Jährige. Sie erzählt von ihrer Tochter: "Sie lebt in Afrika." Erst später erfährt man, dass das meiste, was die Dame klar und logisch erzählt, nicht wahr ist. "Die Tochter wohnt im zehnten Bezirk und kümmert sich kaum um ihre Mutter", klärt Max Weber auf. "Der Umgang mit Alzheimer-Patienten ist eine Gratwanderung", meint auch Sabina Dirnberger, die für die Öffentlichkeitsarbeit von Caritas Socialis zuständig ist. "Wie reagiert man auf eine Aussage, so dass beide Ja sagen können, ohne dass man lügt. Im Fall der Frau T. hätte man etwa sagen können:, Sie vermissen Ihre Tochter, nicht wahr?', vorausgesetzt man weiß, was wahr ist."

Alzheimer und Aggression

Der schwierige Umgang mit Aggressionen einer neuen Patientin ist gerade Thema einer Teambesprechung in der Pflegestation von Caritas Socialis am Rennweg. Ein Pfleger berichtet, dass die alte Dame, der die Beine amputiert werden mussten, mit Sachen nach ihm warf. Die Psychologin, die der Teambesprechung beiwohnt, rät dazu, noch mehr über die Biografie der Patientin zu erfahren, damit man ihre Wut verstehen lernen kann. Dieser biografiebezogene Ansatz nennt sich Mäeutik, das Pflegekonzept bei Caritas Socialis.

Die Pflegestation umfasst fünf Abteilungen, insgesamt 130 Betten, mit einer Station für Multiple-Sklerose-Patienten. "Es gibt fast nur Einzelzimmer. Man versucht, die Selbstständigkeit, so weit es geht, zu fördern," erklärt Barbara Schwarzmann, Leiterin der Pflegestation, und weiß um den "negativen Stempel", der einem Pflegeheim anhaftet. "Die Gründe, warum jemand zu uns kommt, sind unterschiedlich: Entweder es gibt keine Angehörigen mehr oder dieselben sind mit der Pflege überfordert; oder der Mensch traut es sich nicht mehr zu, allein zu sein", sagt Schwarzmann. "Aber viele nehmen Schlimmes auf sich, um nur zuhause bleiben zu können." Und nicht selten kommen Pflegekräfte dann in Extremsituationen, wenn sie etwa einen alten Menschen zurücklassen müssen und ahnen, dass er in der Nacht sterben könnte …

Infos: www.cs.or.at

www.redcross.at

www.fsw.at (Fonds Soziales Wien)

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