"Es sind zu viele Priester schuldig"

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Er war Sekretär des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden ("Iustitia et Pax") und Ständiger Beobachter des Heiligen Stuhls bei der UNO in Genf. Erst kürzlich kehrte diarmuid martin in seine Heimat Irland zurück - als Erzbischof-Koadjutor von Dublin. Eine heikle Mission, ist doch die katholische Kirche Irlands mit hunderten Missbrauchsfällen konfrontiert.

Die Furche: Sie sind nach 30 Jahren im Ausland vor vier Monaten nach Irland zurückgekehrt - in eine schwierige Situation: Die katholische Kirche ist dort mit rund 450 Klagen von sexuellem Missbrauch konfrontiert...

Diarmuid Martin: Ich bin richtig erschrocken: Es sind zu viele Priester, die schuldig sind. Noch erschreckender ist die große Zahl der Opfer jedes dieser Priester...

Die Furche: Glauben Sie, dass die Kirche immer richtig reagiert hat?

Martin: Mittlerweile kann man eindeutig sagen, dass sie nicht richtig reagiert hat. Ich habe den Luxus, einzelne Dossiers öffnen und chronologisch nachlesen zu können. Aber mein Vorgänger hat von einzelnen Fällen oft sehr spät gehört. Diese Diskussion wird erst ein Ende finden, wenn alles auf den Tisch gekommen ist. Das ist wie ein Geschwür: Erst wenn alles herauskommt, ist es überstanden.

Die Furche: Warum konnte es gerade in Irland zu so vielen Missbrauchsfällen kommen?

Martin: Wenn man eine Umfrage in Irland vor zehn Jahren gemacht hätte, dann hätte man gehört, dass es nur einzelne Fälle gibt. Ich selbst habe viel Kontakt mit Missbrauchsopfern: Diese Menschen haben tatsächlich gelitten, und das haben wir nicht verstanden. Es sind nicht Leute, die antikirchlich eingestellt sind, sondern Menschen, deren Leben zerstört wurde und die mit diesem Trauma nicht mehr leben wollen.

Die Furche: Sind die derzeitigen Maßnahmen der Kirche ausreichend, um völlige Transparenz herzustellen?

Martin: Wir haben in Dublin ein Amt für "Child Protection", für den Schutz der Kinder, eingerichtet. Das ist eine Art Fortbildungsprogramm für Priester und alle Leute, die im kirchlichen Dienst arbeiten. Hier können sich auch Opfer melden. Es gibt ja leider auch falsche Anklagen. Viele Priester sagen mittlerweile: Wir können überhaupt nicht mehr mit jungen Leuten pastoral arbeiten. Das Problem ist, dass Pädophile immer wieder versuchen, in Berufe zu kommen, wo es Kontakt mit Kindern gibt. Wir müssen deutlich machen: Wer diese Tendenzen hat, hat bei uns keinen Platz. Es gibt in Irland aber noch eine andere Organisation mit dem Namen "One in four": Das heißt, dass eine von vier Personen missbraucht wurde. Man vermutet, dass die Priester drei Prozent aller Missbrauchstäter stellen. Wo sind die anderen 97 Prozent? Das ist also ein gesamtgesellschaftliches Problem, das wir ernst nehmen müssen.

Die Furche: Wie will man garantieren, dass Pädophile keinen Platz mehr in der Kirche finden?

Martin: Das ist tatsächlich schwierig: Von den angeklagten Priestern waren drei zu meiner Zeit im Priesterseminar: Und damals gab keinerlei Anzeichen.

Die Furche: Ist es geplant, die eigene Sexualität im Zuge der Priesterausbildung verstärkt zu thematisieren?

Martin: Ich hoffe es. Ich werde versuchen, dass die Priesteramtskandidaten in meinem Bistum während ihrer Vorbereitungszeit auch in einer "normalen" Welt arbeiten können und dass sie so weit wie möglich ihre eigene Identität prüfen können. Es ist nicht einfach, in dieser Welt ein guter Priester zu sein. Die Priester brauchen einen starken Glauben, einen starken Körper und auch eine starke Psyche. Und sie brauchen natürlich Unterstützung in der Gemeinde.

Die Furche: In den USA haben die Missbrauchsfälle zu massiven Finanzproblemen geführt. Fürchten Sie so etwas auch für Irland?

Martin: Ich befürchte schon, dass wir große Finanzprobleme bekommen werden.Wenn es zu Prozessen kommt, müssen wir den Leuten natürlich eine Entschädigung zahlen. Aber Personen sind wichtiger als Geld. Es ist glaubwürdiger, tief in die Tasche zu greifen, als eine falsche Verteidigungsposition einzunehmen. Und nur eine Kirche, die glaubwürdig und ehrlich ist, wird auch unterstützt.

Die Furche: Irland steht auch aus einem erfreulicheren Grund im Brennpunkt des Interesses: Seit 1. Jänner hat es die EU-Präsidentschaft inne. Wie groß ist die Europa-Euphorie?

Martin: Irland ist immer ein sehr Europa-orientiertes Land gewesen. Und es ist gleichzeitig jenes Land innerhalb der EU, wo die Zufriedenheit mit der eigenen Identität am größten ist. Irland hat natürlich durch die EU viel gewonnen, aber es hat die finanzielle Unterstützung - etwa für Infrastruktur - auch entsprechend genutzt. Das war nicht überall in Europa so.

Die Furche: Umso skeptischer müssten die Iren der EU-Erweiterung gegenüberstehen: Nun fließen die Fördergelder in die neuen Mitgliedsstaaten...

Martin: Es ist klar: Irland wird nun ein Geberland werden. Aber es ist stark genug, um das zu verkraften. Die Bevölkerung hat große Erwartungen in die EU-Präsidentschaft gesetzt: Eine Hoffnung ist, dass sich die EU stärker für Afrika einsetzt. Gerade vor Weihnachten wurde der Nuntius in Burundi, ein Ire, erschossen. Das war ein weiterer Grund, auf die Regierung einzuwirken, etwas gegen die Konflikte in Afrika zu unternehmen.

Die Furche: In den nächsten Monaten wird das Ringen um eine gemeinsame EU-Verfassung weitergehen: Halten Sie es für wichtig, darin einen Gottesbezug herzustellen?

Martin: Es gibt drei verschiedene Möglichkeiten: dass man Gott direkt nennt, dass man sich auf die christliche Tradition Europas beruft, oder dass man die Stellung der Kirchen in der EU näher definiert. Die letzte Option ist effektiv, die anderen stehen nur in der Präambel. Es ist nicht möglich, die christliche Tradition Europas zu verdecken. Dass man direkt von Gott redet, wäre schön, aber ich verstehe auch, dass es große politische Bedenken von Ländern gibt, die sehr säkularisiert sind.

Die Furche: Als Sekretär des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden ("Iustitia et Pax") haben Sie sich intensiv mit den Folgen der Globalisierung beschäftigt. Eine Tendenz ist, dass staatliche Dienstleistungen immer öfter privatisiert werden. Für wie bedenklich halten Sie diesen Trend?

Martin: Gewisse Dienstleistungen können durch Private besser erledigt werden. Aber es gibt auch menschliche Bedürfnisse, die man nicht kaufen oder verkaufen kann. Zwei Beispiele aus Irland: Ich bin erstaunt, dass man manchmal Personen in der Notaufnahme der Krankenhäuser bis zu 20 Stunden warten lässt, bevor sie einen Arzt sehen. Das sind verrückte Folgen einer Wirtschaft, die die Bedürfnisse der Menschen übergeht. Ich bin ein Befürworter der Marktwirtschaft, aber wenn wir alle menschlichen Dienste kommerzialisieren, dann wird das unmenschlich für alle.

Die Furche: Wo sehen Sie in diesem Bereich die Aufgabe der Kirche?

Martin: Sehr oft wird gesagt, die Kirche soll die Stimme der Armen sein. Doch die Armen können selbst sprechen! Sie haben etwas zu sagen. Am besten soll man ihnen eine Bühne bieten, damit sie gehört werden. Gegen die Armut hilft nur Empowerment: Man muss den Leuten ermöglichen, ihre Fähigkeiten entfalten zu können.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

Vom armen Dubliner zum Genfer Diplomaten

Wenn es um seine Herkunft geht, hält sich Diarmuid Martin nicht bedeckt: "Ich komme aus einem ärmeren Viertel in Dublin", erzählte er den Journalisten im Rahmen des fünften Symposiums zum Mitteleuropäischen Katholikentag in Puchberg. "Ich und mein Bruder waren die einzigen in unserer Straße, die die Sekundarschule fertig gemacht haben. Die anderen waren nicht weniger intelligent als wir, aber sie haben keine Chance bekommen." Diarmuid Martin hat seine Chance jedenfalls genützt: Der Sohn eines Fabrikarbeiters, der nach England ging, um seine Familie ernähren zu können, studierte nach seiner Priesterweihe zunächst am "Angelicum" in Rom und war dann Pfarrseelsorger in einer kleinen irischen Ortschaft. 1976 trat er in den Dienst des Heiligen Stuhls und war zunächst im Päpstlichen Familien-Rat tätig. Es folgte die Berufung zum Sekretär des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden ("Iustitia et Pax"). Schließlich wurde Martin Ständiger Beobachter des Heiligen Stuhls bei der UNO in Genf. Vor vier Monaten kehrte er als "Troubleshooter" gegen die Missbrauchsfälle in seine Heimat Irland zurück - nicht ganz freiwillig, wie Martin offen gesteht: "Ich habe in Genf und Rom auf Weltebene gearbeitet. Doch erst jetzt in Dublin werde ich auf der Straße erkannt. Das ist zwar schön, doch ich hätte auch gern meine Privatsphäre."

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