Ess-Störungen: Der Zeitgeist ist wirklich zum Kotzen

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Der Zeitgeist ist schizophren: Die Jugendkultur fördert auf der einen Seite Genuss und Übertreibung, die Gesellschaft fordert von den Jungen auf der anderen Seite Selbstbeherrschung und Kontrolle nicht nur in Schule und Beruf, sondern zum Beispiel auch beim Essen.

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Der Zeitgeist ist schizophren: Die Jugendkultur fördert auf der einen Seite Genuss und Übertreibung, die Gesellschaft fordert von den Jungen auf der anderen Seite Selbstbeherrschung und Kontrolle nicht nur in Schule und Beruf, sondern zum Beispiel auch beim Essen.

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Die Menschen in der heutigen westlichen Zivilisation schwimmen in einem Überfluss an Nahrungsmitteln, gleichzeitig huldigen sie aber dem Schlankheitskult. Diese soziale Schizophrenie ist der ideale Nährboden für ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper und zum Essen. So sind in Wien nur elf Prozent der 15-jährigen Mädchen mit ihren Körperproportionen zufrieden; 34 Prozent haben starke oder sehr starke Angst zuzunehmen und alarmierende 12,7 Prozent geben zu, dass sie bereits absichtlich erbrochen haben, um ihr Gewicht zu reduzieren. Diese Zahlen ergab jüngst eine Studie zur Erfassung von Essverhaltensauffälligkeiten an öffentlichen Wiener Schulen.

Ess-Störungen werden bei jungen Menschen leider häufig zur Sucht. Eine Form ist die zwischen Mager- und Fress-Sucht angesiedelte Bulimie oder Ess-Brech-Sucht. "Dabei kommt es zu Anfällen von Heißhunger und einem Kontrollverlust. Es werden Unmengen hochkalorischer Lebensmittel gegessen, bis man nicht mehr kann. Gleichzeitig hat man aber panische Angst, dick zu werden. Deshalb folgt bewusst herbeigeführtes Erbrechen und Schuldgefühle", schildert die Ernährungswissenschafterin Andrea Lehner die Symptome dieses oft schwerwiegenden Suchtverhaltens. Lehner leitet "give", die Servicestelle für Gesundheitsbildung im Österreichischen Jugendrotkreuz, die vom Unterrichts- und vom Sozialministerium mitinitiiert wurde.

Die Bulimie greift unter jungen Menschen weiter um sich. Schätzungen zufolge sollen sechs Prozent der 18- bis 35-jährigen Frauen in Österreich bereits betroffen sein. Dazu kommt noch eine Dunkelziffer. In letzter Zeit steigt auch der Anteil der nach dem Stoff "Essen" süchtigen jungen Männer. "Die Männer emanzipieren sich in diesem Bereich leider", bestätigt Lehner. Immerhin bereits jeder zwölfte der Betroffenen sei männlich, sagt sie.

Mangelnde Liebe Trotz dieser Zahlen ist Ess-Brech-Sucht noch immer ein Tabuthema. Die jungen Süchtigen wollen um keinen Preis auffallen. Bei mehrmaligen "Fressanfällen" am Tag werden freilich enorme Mengen an Essen verschlungen. Die Ausgaben für Lebensmittel sind dementsprechend horrend. Verheimlichung, die Angst, aufgedeckt zu werden, Lügen - typische Symptome einer Suchterkrankung scheinen auf. Die Betroffenen verstricken sich immer tiefer in quälende Selbstanalysen - trotz psychischer Kraftlosigkeit aufgrund der faktischen Mangelernährung. Die Ess-Brech-Sucht wird noch dazu sehr häufig von Depressionen begleitet.

Für Bulimie gibt es laut Experten unterschiedliche Entstehungsursachen: mangelnde Liebe in der Kindheit, familiäre Konflikte, Ängste vor dem Erwachsen- oder Selbständigwerden, nicht erfüllbare Erwartungen an den jungen Menschen, ein geringes Selbstwertgefühl, ein gestörtes Körperbild oder einfach die Angst vor Übergewicht können ein Rolle spielen. Meistens ist es eine Kombination mehrerer Probleme, die junge Leute in die Sucht schlittern lassen.

Egal, aufgrund welcher Ursachen die Esstörung auftritt: "Die Heilungsaussichten sind viel besser als etwa bei Magersucht, da es bei Bulimie eine Krankheitseinsicht gibt", sagt Lehner. Und die Chancen auf Gesundung seien umso größer, je früher ein Psychotherapeut aufgesucht werde. Die Ernährungswissenschafterin: "Er kann zu einer Verhaltensänderung beim Klienten beitragen." Eine Therapie in Selbsthilfegruppen oder eine Familientherapie könne aber ebenfalls erfolgreich sein. Am wichtigsten aber sei, die Scham wegen der Sucht zu überwinden, die soziale Isolation zu durchbrechen und das Thema "Bulimie" anzusprechen, appelliert Lehner.

Das ist allerdings nicht einfach. Denn die vom Ess-Brech-Süchtigen mit allen Kräften angestrebte Schlankheit ist in unserer Gesellschaft ein Götze. Sie wird mit Leistungsfähigkeit und Schönheit assoziiert. Der gestylte Körper verspricht Kraft und Ausdauer bei der Verfolgung künftiger beruflicher Ziele, die schlanke Figur gilt bei jungen Leuten als Eintrittskarte ins soziale Glück. Dem Abgott Schlankheit wird alles untergeordnet - auch die Gesundheit. Der eigene Körper wird zum Feind im Kampf um das von einer suchtähnlichen Zwangsvorstellung geforderte niedrige Gewicht. Der Zeitgeist feiert den Sieg über den eigenen Körper als größten Triumph. Bei sechs Prozent der jungen Frauen kann dieser Sieg nur durch Erbrechen errungen werden - Tag für Tag.

Nächste Woche: "Exzesse"No risk, no fun:auf der Suche nach den letzten Grenzen

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