Ethik in Forschung und Technik: Religion ohne Transzendenz?

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Dr. Bernhard Pelzl von der JOANNEUM RESEARCH fordert eine Forschungsethik, die sich dem Ganzen des menschlichen Lebens verpflichtet weiß.

Wenn man Forscher nach ihrer persönlichen Motivation für ihre Arbeit fragt, erhält man – abgesehen von persönlichen emotionalen Begründungen wie „Neugierde“ und „Wissensdurst“ – durchaus auch Antworten mit ethischem Bezug: die Mängel der konkreten menschlichen Existenz – individuelle wie gesellschaftliche – in allen denkbaren Bereichen zu kompensieren, z. B. Ersatz für kranke Organe zu schaffen, die materielle Existenz des Menschen zu sichern, Gefahren zu minimieren (Klimaschutz) oder den Alltag zu erleichtern („Haushaltsroboter“).

Das ist eines der Ergebnisse einer im Jahr 2000 im von Walter Pieringer und Franz Ebner herausgegebenen Buch „Zur Philosophie der Medizin“ (Wien-New York: Springer Verlag) unter dem Titel „Die Welt als Maschine, der Markt als Maß“ veröffentlichten Analyse, deren Ziel es war, zu untersuchen, an welchen konkreten Wert- und Lebensauffassungen – oder anders ausgedrückt: an welcher Ethik – sich die Tätigkeit moderner Forschung orientiert, und welches Weltbild sie sich zugrundelegen muss, um diese Tätigkeit den Vorgaben ihrer Wert- und Lebensauffassungen entsprechend durchführen zu können.

Forschungsethisches Grundprinzip: Mängelkompensation

Aus der Zieldefinition von Forschung als „Mängelkompensation“ ergibt sich als Maßstab für ihre Ethik der Grad der Kompensation von Mängeln mit technischen Mitteln – etwa der Ersatz des eigenen kranken Herzens durch ein Kunstherz – und die damit verbundene Erhöhung des Lebensalters und gegebenenfalls der Lebensqualität. Ethische Forschung bestünde danach also darin, den Fortschritt voranzutreiben, indem sie Teilerfolge auf dem Weg zur vollkommenen Kompensation der Mängel der menschlichen Existenz schafft.

Das Weltbild dahinter

Dieses Ziel aller Forschung legt ein Wertesystem offen, das als ethisches Teilsystem auch in den Religionen vorliegt. Es unterscheidet sich nur dadurch, dass es auf eine transzendentale Letztbegründung verzichtet. Die zentralen Werte gelten im Gegensatz zu den Religionen nicht als auf ein letztes, außerhalb der irdischen Existenz liegendes und damit prinzipiell unerforschliches Ziel hin orientiert, sondern werden, weil auf der materiellen (einzigen) Welt zu erreichen, evident gesetzt, möglicherweise als Funktionen von Genen oder Supergenen.

Ethisches Endziel „Paradies auf Erden“

Während nach den Religionen letztlich jedes Individuum die Vollkommenheit erreichen kann – wenn nicht während seiner Lebenszeit, dann wenigstens nach dem Tod (oder nach vielen Leben und Toden) in vielfältig vorgestellten „Paradiesen“ –, ist Forschung nicht in der Lage, dem Individuum solches zu verheißen. Sie kann daher auch nicht trösten. Dessen ungeachtet ist sie aber nicht weniger einer Paradiesvorstellung verhaftet: Ihr ständiges Bestreben, Mängel zu kompensieren und dadurch zu einer „besseren“, weil weniger an Mängeln leidenden, Welt fortzuschreiten, ist nur daraus verständlich. Sie kann zwar nicht das Paradies für jetzt lebende Individuen schaffen, aber möglicherweise für spätere. Nicht die Vollkommenheit des Individuums steht also als Ziel an, sondern die des Kollektivs Menschheit, als dessen Teil dann möglicherweise auch das einzelne Individuum seine Vollkommenheit erreichen mag.

Forschung geht in ihrem Weltbild also zwar, gleich wie die Religionen, von der Erfahrung der Unvollkommenheit der menschlichen Existenz aus, glaubt aber – im Gegensatz zu den Religionen –, diese Mängel langfristig vollkommen kompensieren zu können. Ohne diese Annahme wäre das wissenschaftliche Fortschrittsstreben nicht verstehbar. Dann könnte man sich ja auch mit dem Erreichten einmal zufriedengeben und den ungelösten Rest dem Transzendenten hoffnungsvoll anheimstellen.

Das Ethikkonzept von Wissenschaft, Forschung und Technik erweist sich also als das einer Religion ohne Transzendenz – genauso wie es Anselm Feuerbach verstanden hat: Religion umfasst das, was die Wissenschaft noch nicht erklären kann.

Ein solches Ethikkonzept ist in einer gottlosen Welt tatsächlich plausibel, und das mag auch erklären, warum sich Ethik so schwer in Forschung und Wissenschaft integrieren lässt, sodass man Ethikkommissionen braucht.

Dagegen: eine Ethik, die sich dem Ganzen des Lebens verpflichtet weiß

Für eine Ethik, die sich dem Ganzen des Lebens verpflichtet weiß, ist ein solches Konzept höchst unbefriedigend. Welche Rolle soll da noch die Verantwortung des Forschers spielen, welche Rolle hat da noch das Bekenntnis zu persönlichen Wert- und Lebensauffassungen und wie soll man mit den Emotionen und Haltungen umgehen, die Menschen haben, auf deren Leben Forschungsergebnisse unmittelbar Einfluss nehmen? Auch das bestimmt die Qualität von Forschung. Deshalb hat die außeruniversitäre Forschungsgesellschaft JOANNEUM RESEARCH in Graz für ihre Forscher und Forscherinnen eine Ethik-Initiative gestartet. 2007 wurde eine Ethik-Arbeitsgruppe eingerichtet, welche die Forschenden bei Bedarf in ihrer Entscheidungsfindung begleitet und sie dabei unterstützt, in den Verstrickungen einer wesenhaft unvollkommenen Welt nach bestem Wissen und Gewissen verantwortungsvoll, gerecht und auch liebevoll zu handeln. Dahinter steht die Überzeugung, dass es keinen prinzipiellen Unterschied gibt zwischen ethischem Handeln im Alltag und dem Forschen, dem „Handeln“ des Wissenschafters.

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