Europa Lesen

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Über einige Versuche, mit mitteln der literarischen reportage das neue europa zu erkunden.

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Über einige Versuche, mit mitteln der literarischen reportage das neue europa zu erkunden.

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Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk fragte einmal einen deutschen Bekannten, "wo Eu ropa eigentlich endet". Der gab zur Antwort, Europa sei ein "geistiger Raum", "der so weit reicht wie die Werte der liberalen Demokratie und Toleranz". Und dann meinte der nachdenkliche Deutsche noch, so gesehen habe Deutschland zwischen 1933 und 1945 nicht zu Europa gehört.

Diese zweite Behauptung ruft Stasiuks Widerspruch hervor. Er kann nicht glauben, dass ein Staat gleichsam von der europäischen Landkarte verschwindet, sobald ein Unrechtsregime gegen den liberalen Wertekanon verstößt. Er findet es geradezu leichtfertig, dass sein deutscher Bekannter, den er nur "A." nennt, einfach sagt: "Zwischen '33 und '45 gab es uns nicht." Ironisch kommentiert Stasiuk: "Ich rauchte und fragte mich: Wo war A.'s Heimat zwischen '33 und '45, wenn nicht hier, denn irgendwo mußte sie ja gewesen sein?"

Diese kleine Episode, die sich in Stasiuks essayistischem Reisebild "Logbuch" findet, kritisiert ein abstraktes Europa-Verständnis, dem man in Talkshows und anderen politischen Grundsatzdebatten des Öfteren begegnet: Wer so redet wie Herr "A.", denkt offensichtlich an eine Europäische Union, die vor allem durch gemeinsame Werte zusammengehalten wird. "A." nennt Demokratie und Toleranz, doch werden anderswo weitere Wertvorstellungen diskutiert.

Alltagsbeobachtungen

Das von Hans Joas und Klaus Wiegandt herausgegebene Buch "Die kulturellen Werte Europas" rechnet die "jüdisch-christliche Tradition" ebenso zum europäischen Geistesvorrat wie die "griechisch-römische", desgleichen wird die "Rationalität" als europäisches Spezifikum erörtert und manches andere mehr. Mögen sich derartige Erörterungen im Einzelnen auch erheblich voneinander unterscheiden, so konzipieren sie doch allesamt ein wertegeleitetes politisches Gebilde, das zwar in Reinkultur nirgendwo existiert, das aber nach dem Wunsch und Willen der Programmatiker irgendwann entstehen sollte.

Dem Schriftsteller Andrzej Stasiuk ist diese Werte-Erörterung buchstäblich "zu hoch". Das Europa, das er in seinem Text beschreibt, ist nicht von "geistigen" Prinzipien geprägt, sondern von einer Fülle von Alltagsbeobachtungen: "Ja", so erklärt er emphatisch, "daraus setzt sich mein Europa zusammen. Aus Einzelheiten, Kleinigkeiten, Ereignissen, die nur wenige Sekunden dauern und an Filmszenen erinnern, aus flimmernden Fragmenten, die durch meinen Kopf wehen wie Blätter im Wind, und durch dieses Gestöber von Episoden schimmern Landkarten und Landschaften. Das ist so, weil meine Leidenschaft schon immer der Geographie und nicht der Geschichte galt, von deren riesigem, halbtotem und halbverwestem Leib wir uns in unseren Gegenden so lange ernährt haben."

Stasiuk hat also weder politisch-kulturelle Werte im Blick noch die Lasten der europäischen Geschichte, die gerade sein Heimatland Polen in erheblichem Maße hat tragen müssen. Ihn interessiert Europa als bewohnter und belebter Raum. Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass ihm das bunte, etwas chaotische Leben in Mitteleuropa -also vor allem in Polen, Ungarn und der Ukraine - sympathischer und interessanter ist als die (zumindest in seinen Augen) allzu ordentlich durchorganisierten Abläufe des Westens. Doch ist dieses Beharren auf der subjektiven Perspektive das gute Recht eines jeden Reisenden und eines jeden Schriftstellers.

Mit diesem Interesse am unmittelbaren Leben steht der polnische Autor nicht alleine in der europäischen Literatur der Gegenwart. Ganz im Gegenteil: Überall haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten Autoren und Autorinnen auf den Weg gemacht, um das europäische Leben zu beobachten und zu beschreiben. Der historische Grund für dieses Interesse ist nicht schwer zu finden: Durch den Zusammenbruch des Kommunismus im Jahr 1989 hat sich jenes riesige Gebiet, dem man im Westen einst den Drohund Schreck-Begriff "Ostblock" übergestülpt hat, wieder in ein reich gegliedertes, vielfältiges Terrain verwandelt. Außerdem sind in allen Ländern Ost-und Südosteuropas grundlegend neue gesellschaftliche Bedingungen entstanden -und die Dynamik, die damit einhergeht, hat längst auch die westeuropäischen Länder erfasst. Das Gesicht Europas hat sich also, kurz gesagt, in den letzten 20 Jahren stärker verändert als in den vier Jahrzehnten davor. Und diese gravierenden Veränderungsprozesse werden eben literarisch beobachtet und beschrieben -und zwar meist in der Form der Reportage.

Gewichtige Beispiele

Um zu begreifen, was eine gute Reportage leisten kann, seien aus der Fülle der möglichen Beispiele drei besonders gewichtige herausgegriffen: Im Jahr 2004 veröffentlichte der niederländische Journalist Geert Mak den voluminösen Band "In Europa", der die Frucht einer ausgedehnten Reise ist. Mak hat im Lauf eines Jahres all die Städte und Landschaften besucht, die für die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts von Bedeutung gewesen sind. Er war auf den belgischen Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges genauso unterwegs wie in Guernica, dem Symbolort des Spanischen Bürgerkriegs, er hat die glanzvollen Metropolen des Jahrhunderts -Wien, Paris, London, Berlin -besucht, doch führte ihn sein Weg auch in das Konzentrationslager Auschwitz oder nach Danzig, wo die polnische Solidarnosc-Bewegung ihre ersten Siege errang, und schließlich nach Srebrenica, wo sich das grausamste Massaker des Balkankriegs ereignete.

Diese (und noch viele andere) Orte sind zwar auch aus jedem Geschichtsbuch bekannt. Die besondere Leistung des Reporters Mak besteht aber darin, die Städte, die er besucht, nicht als museale "Schauplätze der Geschichte" wahrzunehmen, sondern als lebendige Städte, in denen Menschen arbeiten und leben wie überall sonst. Allerdings untersucht Mak immer wieder, in welchen Formen die historischen Erblasten in das städtische Leben integriert (oder manchmal auch verdrängt) werden. So entsteht eine lebendige Topografie der europäischen Geschichte, die sich im Lauf der Reise und ihrer Beschreibung in unzählige kleine, lokale und regionale Geschichten auffächert: "Wir haben einander noch ziemlich viel zu erzählen und zu erklären, und damit stehen wir noch ganz am Anfang" heißt einer der letzten Sätze dieses Buchs.

Während Geert Mak sich den allseits bekannten Schauplätzen der großen Geschichte zuwendet, bewegt sich der Sammelband "Last &Lost" bewusst im Schatten des Geschehens. In diesem "Atlas des verschwindenden Europas" porträtieren Autorinnen und Autoren aus fünfzehn europäischen Ländern Orte und Landschaften, die entweder schon untergegangen sind oder aller Wahrscheinlichkeit nach keine Zukunft mehr haben. Da gibt es zum Beispiel an der britischen Ostküste den Weiler Covehithe, über den die englische Lyrikerin Lavinia Greenlaw schreibt: "Ein kleines Dorf, das in der einen oder anderen Form seit mindestens fünfhundert Jahren hier war und sich jetzt selbst verlorengeht." Dass ein solches "Verlorengehen" aber zuweilen auch einem bewussten Akt der Zerstörung geschuldet ist, zeigt einer der österreichischen Beiträger, Karl-Markus Gauß, am Beispiel all jener Dörfer im Waldviertel, die seinerzeit dem Truppenübungsplatz Allentsteig weichen mussten: "Die Rückverwandlung einer Kultur-in eine Naturlandschaft ist nicht von einer Naturkatastrophe verursacht worden, sondern war Menschenwerk, mit strategischer Voraussicht geplant, mit militärischer Effizienz vollzogen."

Gebrauchtwagenmarkt

Wer diese durch und durch melancholische Anthologie liest, macht also Bekanntschaft mit Orten und Regionen, die im Begriffe sind zu verschwinden. Doch sind nicht alle Reporter dem Vergehen auf der Spur. Der deutsche Historiker Karl Schlögel zum Beispiel, der seit 1989 die Entwicklungen in Ost- und Mitteleuropa aufmerksam verfolgt, interessiert sich ausdrücklich für das Neue und Werdende. In seinem Reportagenband "Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte" porträtiert er unter anderem die litauische Stadt Marjampole. Dort gäbe es wenig zu sehen, wenn nicht allwöchentlich ein riesiger Gebrauchtwagenmarkt stattfände, auf dem West-Autos in den Osten verkauft werden. Wer sich Europa nur als Gebilde aus Werten und Prinzipien vorstellt, wird einen solchen Autohandel für wenig bedeutsam halten. Ein Reporter wie Schlögel, der sich für Einzelheiten leidenschaftlicher interessiert als für das Große Ganze, erkennt jedoch in diesem Umschlagplatz einen der vielen Bausteine der europäischen Integration: "Die hohe Kultur will davon nichts wissen. Es ist, als schäme sie sich der Trivialität, ja Schmutzigkeit des Busineß, erst recht des Busineß mit Gebrauchtwagen. Kultur will mit so etwas nichts zu tun haben. Aber die Händler von Marjampole haben nicht weniger mit der Verfertigung Europas zu tun als die Schriftsteller, Künstler, Maler und Interpreten, die Litauen vor zwei Jahren zur Buchmesse nach Frankfurt entsandt hatte."

Liebe zur Reportage

Andrzej Stasiuks poetischer Essay, Geert Maks historische Recherche, die melancholische Suche mehrerer Reisender nach dem, was verschwindet, Karl Schlögels Interesse an dem, was sich gerade erst entwickelt - bei allen großen Unterschieden haben diese lesenswerten Texte doch eines gemeinsam: Sie sind geschrieben von Menschen, die ihren eigenen Sinneswahrnehmungen mehr vertrauen als Allgemeinplätzen und globalen Theorien. Und darüber hinaus ist allen die Liebe zur Reportage gemeinsam - also zu jener nicht-fiktionalen, aber dennoch anspruchsvollen Darstellungsform, die zwischen Journalismus, Wissenschaft, Essayismus und Literatur oszilliert und die wohl gerade wegen dieser Offenheit den unübersichtlichen Zuständen des derzeitigen Europa besonders gut entspricht.

hermann schlösser, geboren 1953 in Worms, lebt in Wien, Literaturwissenschafter und Redakteur der "Wiener Zeitung". Veröffentlichungen u. a.:"Kasimir Edschmid"(2007); Gemeinsam mit Gerald Jatzek: "Wie kommt der Esel auf die Brücke? Kleine Merkhilfen gegen die große Vergesslichkeit."(2008)

Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte Von Karl Schlögel. S. Fischer 2009. 317 S., kart., e 13,40

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