Was haben sie uns nicht alles versprochen, als es um die Errichtung der Europäischen Union ging? So habe ich letzthin gefragt. Alles Blaue vom Himmel. Und es ist eingetreten. Wir sind in der Luxusecke der Welt. Doch die andere Hälfte der Wahrheit ist, dass die Errungenschaften nun zu bröckeln beginnen, gar nicht so sehr aus Verschulden Brüssels, sondern durch Eigensucht und Leichtsinn von Personen, Gruppen und Staaten.
Mit der Ausweitung wird es so schnell nichts: die Türkei eine Diktatur, der südliche Balkan durch Korruption gelähmt. Es geht in die Gegenrichtung: Brexit, aus politischem Fehlkalkül. Sonstige Versprechungen? Allzu rasant ist das Wirtschaftswachstum (in einer "reifen Wirtschaft") nicht. Die Arbeitsmärkte sind turbulent, die Einkommen polarisieren sich, aus technologischen und globalen Gründen. Auch Europa gewährleistet nicht eine soziale Sicherheit, die sich nicht finanzieren lässt. In der Verteidigung angeblicher europäischer Werte driften immer mehr Menschen (und Regierungen) in eine Region weit jenseits aller europäischen Werte: Hobbes statt Kant. Viele Ostländer sind auf dem halben Weg zurück zu Diktaturen, von Solidarität wollen sie ohnehin nichts wissen. Die westliche Kultur scheint immer stärker in Narzissmus und Hedonismus zu zerfließen, statt mit Fleiß, Disziplin und Kraft eine unternehmerisch-kreative Antwort auf die Herausforderungen zu finden: Konfuzius wird stärker, Luther entschwindet.
Was haben sie uns nicht alles versprochen? Eine luxuriöse, freie Lebenswelt. Wir haben sie und sind dabei, alles zu vermurksen. 70 Jahre Frieden haben wir hinter uns gebracht: Das ist eine historische Anomalie. Wenn ich mir die Studierenden (oder gar meine Enkel) anschaue, muss ich es für ziemlich unwahrscheinlich halten, dass sie ihren Lebenslauf unter demokratischen, friedlichen Bedingungen vollziehen können.
Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Graz
