Europäischer Schichtwechsel

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Rumänien deckt seinen massiven Bedarf an Arbeitskräften mit Flüchtlingen und einer Portion Nachsicht bei Asylverfahren.

Mbela Nzuzi steigt aus dem Taxi, der kleine gelbe Dacia rast weiter Richtung Revolutionsplatz und verschwindet schnell im dröhnenden Feierabendverkehr. Auch die 37-jährige Frau mit einem Zweiteiler afrikanischen Flairs hat es eilig. Gleich muss sie noch zur Post, wo es "immer eine Riesenschlange vor dem einzigen geöffneten Schalter gibt“, dann ins Fernsehstudio. Seit gut 15 Jahren lebt sie in der rumänischen Hauptstadt und gilt mittlerweile zweifellos als die bekannteste Migrantin im ganzen Land.

Ohne Visum zum Amt

Mit ihrem Mann ist Nzuzi 1997 aus der Demokratischen Republik Kongo geflohen. Eingereist ist sie in einem Zug, ohne Visum. "In den ersten Tagen wollten wir nichts anderes als schlafen und essen. Dann sind wir zum Migrationsamt gegangen und es begann eine ganze Odyssee.

Anderthalb Jahre hat es gedauert, bis sie und ihr Mann nach einem Gerichtsverfahren den offiziellen Flüchtlingsstatus bekommen haben. "Ein gelangweilter Sachbearbeiter stempelte die Urkunde und ein Polizeibeamter stellte uns die ersten Personalausweise mit rumänischer Adresse aus. ‚Ich gratuliere, ihr habt’s geschafft‘, meinte er zu uns mit einem breiten Lachen und einer guten Dosis Sarkasmus“, erinnert sich die Frau. Doch Mbela Nzuzi durfte mit ihrem neuen Flüchtlingsstatus in Rumänien arbeiten und war von den neuen Perspektiven begeistert. Noch eine Weile zahlte ihr das Migrationsamt monatlich 15 Euro, "um die Motivation der Flüchtlinge bei der Jobsuche zu erhöhen“, wie es aus zynisch dem rumänischen Migrationsamt (ORI) heißt. "Bei mir hat diese Strategie funktioniert: Ich fand die Situation dermaßen bedrückend, dass ich gezielt einen Job bei einer Migranten-NGO gesucht habe“, amüsiert sich Nzuzi im Nachhinein. Es begann ein langjähriges Engagement für die Rechte der Flüchtlinge, aber auch eine schöne Karriere beim Fernsehen. "Nzuzi ist sicher eine Pionierin in einer Gesellschaft, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte mit Einwanderung konfrontiert wird“, erklärt der Politologe Daniel Barbu von der Bukarester Universität.

Neue Generation Immigranten

In der Vasile-Stolnicu-Straße reihen sich links und rechts vier- und zehnstöckige Plattenbauten aus den achtziger Jahren. Zwei dieser grauen, skelettartigen Gebäude werden gerade energetisch saniert und in fröhlicheren Farben gestrichen. Rentnerinnen mit Dauerwelle rauchen am Fenster, plaudern und halten Ausschau, ob die Verkäuferin vom Spätkaufkiosk angekommen ist.

Hier, im nordöstlichen Viertel Colentina, am Rande der Hauptstadt, betreibt das rumänische Migrationsamt eines seiner landesweit fünf Flüchtlingszentren. Die meisten Flüchtlinge kommen aus Afghanistan, Pakistan und dem Iran.

"Bei der überwiegenden Mehrheit handelt es sich eigentlich um Wirtschaftsmigranten, die vermeintliche politische oder religiöse Verfolgung ist oft nur ein Vorwand und lässt sich zudem nur schwierig beweisen“, kommentiert Brebeanu, der seit mehr als zehn Jahren in der Migrationsabteilung des Innenministeriums tätig ist. "Aktuell führen alle wichtigen Routen über die Türkei und Griechenland, dann weiter nach Norden über Serbien oder Bulgarien. Rumänien war traditionell nur ein Transitland auf diesen Routen, doch in letzter Zeit sind wir auch als Zielland attraktiv geworden“, erklärt der Kommissar.

Tatsächlich nimmt spätestens seit dem EU-Beitritt Rumäniens die Zahl der Einwanderer aus Drittländern stetig zu. "Natürlich bewegt sich diese Zahl noch immer im fünfstelligen Bereich und bleibt somit weit unter der Millionenzahl der ausgewanderten rumänischen Staatsbürger, die in den letzten Jahren zum Arbeiten nach Westeuropa gegangen sind“, sagt der Politologe Daniel Barbu. "Doch gerade weil der rumänischen Wirtschaft die einheimischen Arbeitskräfte weglaufen, spüren die Unternehmen vor allem in Phasen des Aufschwungs einen akuten Bedarf an Arbeitnehmern aus dem Ausland. Da der Schengen-Beitritt Rumäniens aber unsicher und politisch heikel bleibt, kann die Regierung offiziell keine Gastarbeiter anwerben, wie Deutschland in den sechziger Jahren. Es müssen also Hintertüren geöffnet werden“, schlussfolgert der Professor.

Im Integrationsprogramm

Eine dieser Hintertüren bietet sich im Rahmen der "besonderen Beziehungen“ zwischen Rumänien und der Republik Moldau. Die zwei Länder verbindet eine zum Teil gemeinsame Geschichte und die Muttersprache der meisten Moldauer ist ein rumänischer Dialekt. "Aber auch die sogenannte illegale Einwanderung lässt sich nutzen“, kommentiert Andreea Mocanu von der Flüchtlingshilfeorganisation CNRR. "Die komplizierten bürokratischen Prozeduren und die gänzlich fehlende interkulturelle Kompetenz der rumänischen Verwaltung ermöglichen den Arbeitgebern, Migranten wirtschaftlich auszubeuten und etwa billigere Bauarbeiter oder Kindermädchen zu finden“, sagt Mocanu.

Claudia Beizadea widerspricht. Seit vier Jahren arbeitet die ausgebildete Sozialarbeiterin als Integrationsbeauftragte des Migrationsamts ORI. "Wenn wir einem Asylbewerber den Flüchtlingsstatus offiziell anerkennen, genießt er die Rechte und Pflichte aller rumänischen Staatsbürger - bis auf das Wahlrecht. Dann fängt ein 12-monatiges Integrationsprogramm an, das ich hier im Haus leite.

Ziel ist, nicht nur die Sprache zu lernen, sondern sich auch die Normen und Traditionen der rumänischen Gesellschaft zu eigen zu machen“, erklärt Beizadea. Doch das Programm stoße in vielen Fällen an seine Grenzen: "Muslimische Migranten können mit unseren Kohlrouladen, Wurstspezialitäten und Rotweinen nicht viel anfangen“, stellt die Integrationsbeauftragte fest.

Im zweiten Stock des Flüchtlingszentrums brät Haladin seine Fladenbrote in dem billigen Sonnenblumenöl aus einer rumänischen Fernsehwerbung.

Der 32-jährige Afghane trägt weiße Sportschuhe und einen zweiseitigen Kapuzenpulli. Über die Türkei und Griechenland gelangte er 2010, nach etlichen Wochen eingeschlossen in Lkws und mehreren nächtlichen Grenzübertritten, schließlich nach Rumänien. "Ab Thessaloniki war alles einfach, da brauchte ich keine Schleuser mehr. In Bukarest sprach ich einen Taxifahrer an und fragte ihn, wo das Migrationsamt ist“, erzählt der junge Mann, der mittlerweile ziemlich gut Rumänisch spricht. Die Behörde hat ihm innerhalb von nur sechs Monaten den offiziellen Flüchtlingsstatus gewährt. "Ein glücklicher Fall, denn normalerweise dauert diese Prozedur mehrere Jahre“, sagt Andreea Mocanu von der CNRR.

Haladin ist aus Afghanistan geflohen und hat seine Geschwister verlassen, weil er den strengreligiösen Traditionen in seinem Heimatdorf nicht mehr folgen wollte. "Das ist nicht der wahre Islam, so steht es nicht im Koran. Deswegen hatte ich irgendwann den Islam satt und ging“, erzählt Haladin.

Polizeikommissar Brebeanu holt den Ordner mit dem Fall aus einem Aktenschrank, der an der Wand mit orthodoxen Ikonen steht. Er findet die Geschichte einigermaßen überzeugend. "Im Vergleich zu den anderen Afghanen ist er sehr gut integriert. Nur eine Arbeitsstelle hat er bisher noch nicht gefunden, zumindest offiziell nicht“, fügt der Polizist hinzu und lächelt.

Das neue Leben

In Haladins Zimmer wurden vor Kurzem die Wände weiß gestrichen, neues hellbraunes Linoleum wurde verlegt. "Das ist im Rahmen eines EU-finanzierten Programms“, erklärt der Afghane, der sich seit einiger Zeit lieber als "Jean“ vorstellt: "Einfacher auszusprechen für die Rumänen“. Bald muss er aus dem Flüchtlingszentrum ausziehen, das Integrationsjahr ist fast vorbei und er muss sich in Bukarest eine Wohnung suchen. "Das soll kein Problem sein, denn ich habe jetzt ein paar rumänische Bekannte“, meint Haladin. Bis vor Kurzem hatte er sogar eine rumänische Freundin. Sie ist nun aber auch ausgewandert - nach Deutschland.

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