Europas neue Mauern

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Vor zehn Jahren fiel die Berliner Mauer. Doch die Freude am Jahrestag ist getrübt. Neue Mauern, nicht nur aus Beton, stehen in und um Europa.

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Vor zehn Jahren fiel die Berliner Mauer. Doch die Freude am Jahrestag ist getrübt. Neue Mauern, nicht nur aus Beton, stehen in und um Europa.

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Eine "Integrationsoffensive" forderte Bundeskanzler Viktor Klima bei der Regierungssitzung am Nationalfeiertag. Richtig! Die Integration der in Österreich lebenden Ausländer muß vorrangiges Ziel jeder nächsten Regierung sein. Mit allen Mitteln ist der Fremdenfeindlichkeit entgegenzutreten. Doch wieviel Offensiven wurden allein schon in den letzten Monaten übers Land geschickt? Technik-, Bildungs-, Verkehrsoffensiven, eine Offensive für Computer und fürs Internet; und jetzt - provoziert durch das Wahlergebnis - kommt die nächste Offensive. Diesmal um zu lernen, was integrieren heißt. Ein paar Millionen darf es kosten. Dafür gibt es dann Integrationsspots im Rundfunk und Integrationsplakate, wo sonst für Unterwäsche geworben wird. Alles professionell, versteht sich: ein bißchen provozierend, ein bißchen lustig, ein bißchen einfach zum Nachdenken. Und das war es auch schon wieder. Wer dann noch immer nicht integriert ist, ist selber schuld!

So wie die 39 Roma-Familien in der nordböhmischen Stadt Usti nad Labem - dem früheren Aussig - schuld daran sind, daß ihnen ihre tschechischen Mitbürger eine Mauer vor die Nase setzten. Eine 62 Meter lange und 1,80 Meter hohe Mauer, um vier Einfamilienhäuser, in denen "weiße" Tschechen wohnen, von zwei Wohnblöcken mit den sogenannten "schwarzen" Roma zu trennen. Apartheid? Ein zu großes Wort für die Mauer in Tschechien. Die ist vor allem ein Akt der Hilflosigkeit im Umgang mit einer unerwünschten Minderheit. Über Jahre hinweg hat die Stadtverwaltung den Roma-Familien diese Wohnungen zugewiesen. Weil sie ihre Miete nicht bezahlten, weil sie als nicht anpassungsfähig galten. Bald lebten in den zwei Wohnblöcken etwa 160 Menschen. Die Erwachsenen zum Großteil arbeitslos, die Kinder - aufgrund von Sprachproblemen - vor allem in Sonderschulen untergebracht. Als Beschäftigung karrten die Roma Sperrmüll heran, den sie sortierten; der Rest blieb liegen, Küchenabfälle und anderer Müll kamen dazu. Das Treiben mißfiel den Nachbarn, und heute rechtfertigt sich der Bürgermeister von Usti, daß Lärm, Schmutz und Gestank die Mauer nötig machten. Den Prager Parlamentsbeschluß und die Aufforderung von Präsident Vaclav Havel, das Bauwerk einzureißen, ignoriert er: "Das Recht ist auf unserer Seite".

Diesem Rechtsverständnis widerspricht EU-Kommissionspräsident Romano Prodi. Der Beitrittskandidat Tschechien bekam von der EU die Rute ins Fenster gestellt und wurde aufgefordert, sich menschenrechtskonform zu verhalten. "Wir brauchen keine neue Mauern in Europa", lautete der Appell an Tschechien. Wie konsequent betreiben aber jene die Integration von Ausländern, die jetzt verächtlich mit dem Finger auf Usti nad labem zeigen? Werden in der EU nicht dieselben Fehler begangen, die zur tschechischen Mauer führten?

Die Zusammenballung von Ausländern, deren schlechte Sprachkenntnisse und ihr niedriger Ausbildungsstand, hohe Arbeitslosenrate und steigende Kriminalität ... Es sind stets diese Fixpunkte, die zu Konfrontation anstelle von Integration führen. Diese Koordinaten gilt es zu korrigieren, doch das schafft keine Werbekampagne. Sie kann bestenfalls den Anstoß zum Umdenken geben.

Beim letztwöchigen EU-Gipfeltreffen im finnischen Tampere stellten die EU-Staats- und Regierungschefs die Weichen für die zukünftige Migrationspolitik der Union. Der Integration bereits anwesender Ausländer wurde höchste Priorität eingeräumt, doch der Weg, wie dieses Ziel erreicht werden soll, gibt Anlaß zur Sorge. Nicht die angemahnte Lastenteilung zwischen den EU-Staaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen wurde beschlossen, sondern die Intensivierung der Kontrollen an den EU-Außengrenzen und die Beschränkung der Zuwanderung fanden einstimmigen Anklang.

Was aber nützen die bestgesichertsten Grenzen, was nützen die Einreisebeschränkungen jenen Immigranten, die schon im Land sind, und jenen, die, in geringerer Zahl zwar, immer noch in die EU kommen? Das Pferd wird so von der falschen Seite her aufgezäumt, und kann sich als Trojanisches Pferd erweisen. Die Probleme zwischen In- und Ausländern werden durch restriktivere Aufnahmebedingungen nämlich in keinster Weise gelöst, bestenfalls gemildert. Gelöst werden vielmehr noch mehr jene Bande, die Einheimische und Zugereiste verbinden könnten.

Mut, Freiheitsdrang und Solidarität ließen vor zehn Jahren die Berliner Mauer einstürzen. Die gleichen Eigenschaften sind heute dringend nötig, um die neuen Mauern im vereinten Europa niederzureißen - zuerst die im Kopf, dann die aus Beton.

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