Europas Wagnis zum Gewinn

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Ein Parömiologe hat einen heiteren Beruf: Er erforscht das weite Feld der Sprichwörter und Redensarten. Jedes Volk verfügt über Tausende von ihnen und benutzt sie zur Ausdeutung der Welt. Dabei zeigt sich schnell, dass sich die Menschen die Welt äußerst opportunistisch zurechtinterpretieren. Zu einem Bergsteiger, der besonders mutig und dabei erfolgreich ist, sagt man gerne schulterklopfend: "Wer wagt, gewinnt.“ Stürzt derselbe Mann einmal vom Berg so meint man belehrend: "Wärst nicht auffigstiegen, wärst net obegfallen.“

Diese Möglichkeit der Mehrfachinterpretation kann gleichwohl als eine der Haupttriebkräfte des Fortschritts gelten. Denn wenn die meisten Vorfälle irgendwie positiv gesehen werden können, gibt es auch kaum eine Gefahr, die nicht überwunden werden könnte, kaum Rückschläge, die nicht verdaut und in einen Erfolg umgemünzt werden könnten. Das Individuum kann sich damit zu Höchstleistungen anspornen. Umgekehrt aber wirken jene seltenen Situationen überaus belastend, in welchen das Verderben unausweichlich scheint. In der Parömiologie hieße es dann: "Wer wagt, verliert.“ In einer solchen Double Bind-Situation steckt in diesen Tagen Europas Wirtschaft.

Ein krankes System

Wir können getrost uns Europäer selbst zum Beispiel machen - unser verzweifeltes Ringen mit den Staatsschulden. Alle EU-Gipfel, alle gehebelten und ungehebelten Rettungsschirme und Hilfspakete müssen bisher als gescheitert gelten - vor allem weil Strategie und Mut fehlen. Die vielbeschimpften Märkte sind gegen diese Umstände allergisch. Ihr Sprichwort lautet: Wer Kredit und Perspektive verloren hat, ist tot für die Welt.

Die Frage für 2012 lautet: Wie retten wir unseren Wohlstand? Vor allem durch Sparen, sagt die Politik. Leider spart sie meist durch höhere Steuern statt bei ihrer Ausgabenverschwendung - und das macht in Krisenzeiten schlimme Dinge noch schlimmer.

Das könnten die wahren Konsequenzen der Beschlüsse des Europäischen Rates von Brüssel und all seiner Schuldenbremsen sein: Dass der selbst auferlegte Zwang mehr Schaden als Nutzen bringen wird. Das gilt für die Steuerzahler, aber noch viel mehr für die Volkswirtschaften, die Wachstum brauchen, um nicht in Krisen zu landen. Für dieses Wachstum braucht man Konsumenten und Investitionen. Beides wird uns der neuen Gesetze wegen bitter fehlen.

Schuldenbremse einmal anders

Interessanter wäre eine Schuldenbremse gewesen, die etwa in Österreich per Verfassung zur Systemreform in den Bereichen Gesundheit oder Bildung zwingt und zwei- und dreigleisige Ämterstrukturen kappt. Interessanter wäre, per Verfassung die Pfründe jener Verbände und Seilschaften trocken zu legen, die beamtet oder pflichtbeitragsfinanziert das Gemeinwesen aussaugen.

Interessant wäre auch, die Regierungen Europas zu zwingen, Solidarität auf EU-Ebene zu definieren. Denn was ist eine Union wert, die Lasten und Pflichten nur solange gleich verteilt, solange die Gewinnmargen einzelner Mitglieder stimmen? Eine Politik die Reißaus nimmt, wenn es darum geht, eine echte Verteilung von Lasten auf Reich und Arm in der EU vorzunehmen?

Die reichen Teile dieser Union müssten endlich erkennen, dass strukturelle Armut nichts mit Gaunerei zu tun hat. Die Armen müssten einsehen, dass die Solidarität der Reichen nur um den Preis von Ehrlichkeit und Selbstdisziplin zu erlangen ist. Auf dieser Basis wären dann auch gemeinsame Anleihen, Eurobonds, möglich.

Es wäre ein großer Schritt zu einer Union, die diesen Namen auch verdient - und auf einen Schlag würde das Vertrauen der Investoren in den Euro zurückkehren. Aber dazu bräuchte es politischen Mut, der weit übers Totsparen hinausreicht und den Glauben an das Neue wiederbelebt - und das alte Sprichwort wieder richtigstellt: Wer wagt, gewinnt.

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