Engelwurz - © Foto: iStock/fedsax

Evidenzbasierte Medizin: Nachweislich heilsam?

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Evidenz ist der Schlüsselbegriff in der modernen Medizin. Zugleich ist um sie eine Art Glaubenskrieg entstanden. Über Heilkunst zwischen Evaluation und Tradition.

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Evidenz ist der Schlüsselbegriff in der modernen Medizin. Zugleich ist um sie eine Art Glaubenskrieg entstanden. Über Heilkunst zwischen Evaluation und Tradition.

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Ansteckende Krankheiten wie Masern oder Lepra sind fast völlig verschwunden, künstliche Knie- und Hüftgelenke Routine, selbst Herztransplantationen und ähnliche Operationen sind möglich. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Europa ist zwischen 1960 und 2018 im Durchschnitt um mehr als ein Jahrzehnt gestiegen – alles Erfolge der modernen Medizin und guter Lebensumstände. Das Konzept der „evidenzbasierten Medizin“ – optimalerweise die Kombination von nachweislich wirksamen Therapien, den Werthaltungen des Patienten und der individuellen Erfahrung des Arztes zur „Versorgung eines individuellen Patienten“ – soll dem seit den 1990er Jahren Rechnung tragen.

Doch so einleuchtend, wie das Wort „Evidenz“ suggeriert, ist moderne Medizin nicht. Evident ist eine klare und eindeutige Wahrnehmung, eine clara et distincta perceptio. Dies ist nach René Descartes (1596–1650), dem Vordenker der Moderne, ein wesentliches Merkmal der Wahrheit. Die Wirksamkeit eines Medikaments ist aber keineswegs sofort einsichtig, sondern wird durch ein Beweisverfahren mit langen Versuchsreihen und statistische Verfahren gewonnen. Die moderne Medizin beruht auf komplexen Beweisführungen, ist also gerade nicht evident. Das englische „evidence based medicine“ heißt ja auch korrekt übersetzt „nachweisbasierte Medizin“. Dass eine Art Glaubenskrieg um diese Art der Medizin entstanden ist, ist kein Zufall, sondern hat historische Wurzeln.

Die Natur auf die Folter spannen

Ein kurzer Blick auf die lange Geschichte der „nachweisbasierten Medizin“ könnte mit dem italienischen Arzt Andreas Vesalius beginnen, der 1542, als Neunundzwanzigjähriger, das erste wissenschaftliche Anatomie-Lehrbuch publizierte. Es war eine Zeit des Aufbruchs und der wissenschaftlichen Neugier – doch unter striktem Ausschluss der Frauen. Galileo Galilei (1564–1641) begann mit der Schwerkraft zu experimentieren und daraus Schlüsse zu ziehen. In wissenschaftlichen Experimenten durfte für die Analyse nur eine Rolle spielen, was gemessen oder gewogen werden kann, war sein Grundsatz. Der englische Politiker und Philosoph Francis Bacon (1561–1626) meinte, man müsse durch Experimente die Natur auf die Folter spannen, um ihr die Geheimnisse zu entreißen.

Das war nicht nur so dahingesagt, denn Bacon war selbst Zeuge peinlicher Befragungen durch Folter. Neue Instrumente ermöglichten neue Entdeckungen: Durch ein Fernrohr konnte man den Mond betrachten oder durch ein Mikroskop die bis dahin unsichtbare Welt der Kleinstlebewesen. Der Philosoph René Descartes, nicht nur Philosoph, sondern auch Arzt, beschrieb Lebensprozesse als mechanische Abläufe. Sein Landsmann Jules Offray de la Mettrie (1709–1751) sah den L’homme machine als Mechanik ohne Seele – weswegen er aus Frankreich flüchten musste, da dies als Gotteslästerung galt. Die Entdeckung Luigi Galvanis (1737–1798), dass Nerven elektrische Ströme leiten und Elektrizität alle lebendigen Prozesse bestimmt, eröffnete neue Horizonte der Naturbeherrschung. Doch blieb das Leben, die Lebensprozesse, die Lebenskraft ein Geheimnis.

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