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Von den meisten gewünscht, psychosozial wie ökonomisch bewährt, droht die traditionelle Form des Zusammenlebens in der heutigen Erlebnis- und Vermarktungsgesellschaft unterzugehen.

Der Familie ist ihre Selbstverständlichkeit, ihre "Normalität" abhanden gekommen. Von der herkömmlichen Familie ist hierbei natürlich die Rede, von der "reaktionären" Variante. Von jener Form, in der zwei Erwachsene - verschiedenen Geschlechts - dauerhaft zusammenleben, günstigenfalls auch noch Kinder in die Welt setzen und diese einigermaßen zu erziehen trachten. Von jener Form, für die man sich schön langsam entschuldigen muss, wenn sie - vermutlich als Zeichen mangelnder individueller Flexibilität im Arbeitsleben, mangelnder biografischer Dynamik oder mangelnder persönlicher Attraktivität auf dem Beziehungsmarkt - gar schon zwei Jahrzehnte in unveränderter personeller Besetzung besteht.

Unzahl von Modellen

Was selbstverständlich oder normal ist, nimmt man nicht wahr. "Krisen" hingegen werden überall dort ausgerufen, wo das, was man als normal wahrgenommen hat, plötzlich problematisch wird. Das "Normale" hat mit sozialen "Normen" zu tun, und diese bezeichnen übereinstimmende Erwartungen von Menschen. Was wird für angemessen gehalten und von den anderen erwartet? Das ist der Kern des Problems: Es ist, wie in vielen anderen Lebensbereichen, nicht mehr klar, was man erwarten darf: vom Partner, von den Kindern, vom Leben, von der Familie. Die alten Vorstellungen haben sich aufgelöst, neue sind schwer zu bilden, auch deshalb, weil viele unterschiedliche Modelle um die Vorherrschaft in den Köpfen der Menschen ringen.

Als soziale Institution teilt die Familie das Schicksal vieler Einrichtungen, die von der Multioptionalität der reichen, modernen Gesellschaft erfasst werden. Peter Gross hat die multioptionale Gesellschaft folgendermaßen charakterisiert: "Die Steigerung der Erlebens-, Handlungs- und Lebensmöglichkeiten, die Optionensteigerung, ist der augenscheinlichste Vorgang der Modernisierung ... Von der Pizzakarte über die Fernsehprogramme bis hin zu den Partnerschafts- und Heiratsmärkten werden in furiosen Folgen neue Handlungsmöglichkeiten aufgetan. Täglich wird die Kontingenz, die Zahl der Alternativen erhöht. Jeder Tag versorgt uns von neuem mit einem kunterbunten Gemisch von Angeboten, Lockrufen, Versprechungen und Angeboten, das Angebotene realisieren zu helfen. Ein Ende ist nicht abzusehen."

So viele Lebensmöglichkeiten; aber auch der Zwang zur Auswahl und der permanente Verdacht, falsch entschieden zu haben. Das betrifft auch die Partner, die Kinder, den Lebensstil, die Familie als Ganze. Alles steht unter dem dauernden Verdacht, zweitklassig zu sein; eine bessere Option zu versäumen. Das ist deswegen prekär, weil die Familie manches leistet, was keine andere Institution zustande brächte. Deshalb nehmen wir es uns heraus, in der allgemeinen Krise auch einmal etwas Positives zu sagen, und mögen es Banalitäten sein: Diese sind manchmal nicht dumm, sondern in ihrer Schlichtheit auch wahr.

Ort des Trostes

Erstens: Die Familie ist der Ort, an dem emotionelle und persönliche Beziehungen ihre zentrale Verortung finden. Wie modern sich die Individuen auch immer dünken mögen, es gehören nun einmal - wie schon Abraham Maslow wusste - Bedürfnisse nach Zusammenhalt, Vertrauen, Verbundenheit, Zugehörigkeit und Verlässlichkeit zu zentralen Desideraten des menschlichen Daseins. Die Familie ist der Ort für das Zuhören, Beraten, Aufmuntern, Trösten und Solidarisch-Sein. Die Familie ist der Ort des Rückzugs, der Pause, der Entspannung, des Schutzes.

Die Familie ist in einer ausdifferenzierten Gesellschaft der einzige Ort der "Ganzheitlichkeit" des Menschen, an dem er nicht in Teilfunktionen, sondern als Gesamtpersönlichkeit angesprochen wird. Das mag man durchaus auch funktional verstehen, als Angebot unverzichtbarer regenerativer Leistungen: Die Familie ist ein "Wellness-Betrieb" für die soziale Welt des Menschen insgesamt.

Wertevermittlung

Zweitens: Die Familie prägt Weltbilder, Weltanschauungen, Werte. Familienmitglieder weisen zumeist übereinstimmende Weltinterpretationen auf. Die Familie vermittelt - horribile dictu - "Tugenden": Einstellungen zum Alter, zu den Geschlechtern, zu Kindern, zu Fremden; das Gefühl, Rechte und Pflichten zu haben; Solidaritätsgefühle. Sie prägt, wie sich immer wieder zeigt, die Lebensläufe, die sich in hohem Maße als "vererblich" erweisen.

Drittens: Empirische Befunde bezeugen, dass es gesund ist, in einer Familie zu leben, auch in Bezug auf die psychische Stabilisierung der Mitglieder. Eine stabile Partnerschaft erhöht die Lebenserwartung (unabhängig von der legalen Form). Verheiratete weisen bessere Gesundheitsindikatoren auf, was sich vermutlich auf ihren gesünderen Lebensstil zurückführen lässt.

Viertens: Familien stehen sogar wirtschaftlich besser da. Verheiratete Personen haben ein unterdurchschnittliches Armutsrisiko (durch doppelte Erwerbstätigkeit, Minderung der Arbeitsmarktrisiken, vor allem auch durch die kostengünstige gemeinsame Haushaltsführung). Single-Sein ist teuer. Ehelichkeit ist die wirtschaftlich effektivste Organisationsform des sozialen Lebens.

Fünftens: Für die Kleinkindererziehung haben sich noch keine Lösungen angeboten, die überzeugender sind als die Familie. Zunehmend wird - nach dem Abschwellen eines naiven Progressismus - die Bedeutsamkeit familiärer Geborgenheit für die ersten Lebensjahre wieder stärker hervorgehoben; stabile Bezugspersonen sind für das Gedeihen der Person unabdingbar (was durchaus auch mit externer Unterstützung vereinbar ist).

Identität wird in der Familie gewonnen: anhand einer Reihe von Balanceakten, die Individualisierung und Sozialität, Autorität und Zugänglichkeit, Bindung und Freiheit und manches andere vereinen müssen. Eltern sind mehr als früher sensibilisiert für die Anforderungen der Erziehung - und diese ist zu einer schwierigen Vermittlungsarbeit in Bezug auf zahlreiche verwirrende und inkonsistente Einflüsse in einer pluralisierten und unübersichtlichen Gesellschaft geworden.

Gründe des Scheiterns

Warum geht die Sache dennoch schief? Ehe und Familie befinden sich nicht deshalb in Erosion, weil die Menschen sie nicht mehr schätzen. Der paradoxe Befund ist vielmehr: Es gibt wenig anderes, das sie sich sehnsüchtiger wünschen als eine stabile, harmonische Partnerschaft und eine funktionierende Familie.

Und dennoch sind die Ehen brüchig geworden, die Geburtenraten sinken, die Scheidungsraten steigen, viele verzichten auf die legalisierte Partnerschaft. Das Problem ist: Die Menschen erwarten sich zu viel von der Familie - ein echtes Kontrastprogramm zur feindlichen Welt: eine Kompensation für alle Versagungen, die ihnen eine moderne Gesellschaft auferlegt; die Euphorie in Permanenz; einen dauernden sensationellen Gefühlszustand. Wird die erwartete Außeralltäglichkeit von der Alltäglichkeit eingeholt, hat man - unter den vielen möglichen - wohl die falsche Option erwischt. Und der Rundblick auf dem fluktuierenden Partnermarkt zeigt, dass sich andere anbieten: Irgendwo gibt es immer die bessere Option. Die Ehe scheitert an der Überschätzung der Ehe.

Die Menschen wissen auch nicht, wie sie die Ehe-Option mit den vielen anderen Optionen - von Freizeitangeboten bis zu Berufschancen - vereinen sollen. Und sie haben gelernt, dass man permanent neue Optionen wahrnehmen und zwischen ihnen abwägen muss. Für die "Beziehungsarbeit" bleibt keine Zeit mehr.

Bröckelnde Funktionen

Wenn man keine verlässlichen Anleitungen zur Kindererziehung hat, erzieht man am besten gar nicht mehr oder beschränkt sich auf (inkonsistente) Impulse. "Tugenden" sind ohnehin eine verstaubte Sache. "Weltbilder" brauchen wir keine mehr. Für die Gesundheit sorgen schon diverse Professionisten oder Medikamente. In wirtschaftlicher Sicht frisst die Verlagerung von Familienfunktionen nach außen das erhöhte Einkommen wieder weg. Die Funktionen der Familien bröckeln.

Familien sind Stätten der Stresskompensation, stehen aber auch selbst unter Stress. Die Familie ist kein Normalzustand mehr. Sie ist ein Schwebezustand. Ein Verhandlungsprozess. Eine Formation auf Widerruf. Die Multioptionsgesellschaft verwöhnt uns zu Tode. Die Familie ist noch eine Insel in der Stressgesellschaft; aber es droht ihr die Überflutung, denn der Ozean der Erlebnishaftigkeit, Multioptionalität und Vermarktlichung schwillt an.

Der Autor ist Professor für Kultursoziologie an der Universität Graz. Der Artikel ist die gekürzte Fassung eines Referates, das Prisching im Rahmen der Gesellschaftspolitischen Tagung der Katholischen Aktion Steiermark zum Thema "Lebenswelt Familie in der Zerreißprobe" am 1. Februar im Bildungshaus Mariatrost halten wird. Nähere Infos unter (0316) 39 11 31/26.

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