Familie - Familie, Hände, Blumen, Generationen - © Pixabay / Hari Mohan

Familientherapeut Jesper Juul über Nähe, Grenzen und Respekt in der Familie

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Hier bin ich! Aber wer bist Du? Unausgesprochene Probleme zwischen Eltern und Kindern bewirken häufig den Eindruck "Irgendetwas stimmt nicht zwischen uns". In St. Virgil Salzburg plädierte der Däne für die "Gleichwürdigkeit" von Kindern und Erwachsenen.

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Hier bin ich! Aber wer bist Du? Unausgesprochene Probleme zwischen Eltern und Kindern bewirken häufig den Eindruck "Irgendetwas stimmt nicht zwischen uns". In St. Virgil Salzburg plädierte der Däne für die "Gleichwürdigkeit" von Kindern und Erwachsenen.

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Eltern fragen heute oft verzweifelt: Wie mach' ich es nur richtig, damit es funktioniert? "Es", das ist die Erziehung und "es" ist das ihnen anvertraute und von ihnen abhängige Kind. Erwachsene erziehen Kinder nach ihrem inneren Entwurf, der meist von Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit ausgeht und im Seufzer "Wenn du doch so wärst wie ich das so gerne hätte" gipfelt. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul plädierte kürzlich im Bildungshaus St. Virgil in Salzburg für die Anerkennung der Kompetenzen der Kinder und die "Gleichwürdigkeit" von Kindern und Erwachsenen.

Pädagoginnen und Pädagogen machen einen entscheidenden Fehler, wenn sie die Tatsache ignorieren, dass Kinder von Geburt an "richtige" Menschen sind, behauptet Jesper Juul. Damit erschreckt er natürlich viele Erwachsene, die sofort in der Rechtfertigungsspur "Wir lieben unser Kind, wir erziehen es frei und diskutieren mit ihm sogar den Speiseplan" an den Start gehen.

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Jesper Juul hat in unterschiedlichen Kulturen Familien betreut und dabei erfahren, dass sich das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern in verschiedenen Tonarten abspielt: "Von Kultur zu Kultur unterscheidet sich die soziale Bedeutung der Familie, aber ihre existentielle Bedeutung ist nach meiner Erfahrung überall gleich. Die Freude über ein konstruktives und gesundes Zusammenleben ist die gleiche, ebenso Schmerz über destruktive Beziehungen. Hier gibt es keinen Unterschied zwischen Bosnien, Dänemark und Österreich."

Ihm seien weder Eltern begegnet, die ihre Kinder nicht liebten, noch habe er Kinder getroffen, die ihre Eltern hassten - sie sind überall da, die liebevollen Gefühle füreinander, aber es gelingt häufig nicht, sie auch in entsprechende liebevolle Taten umzusetzen. "Ich liebe meine Frau und wenn ich diese Liebe zu ihr spüre, jetzt zum Beispiel hier in Salzburg, dann wärmt mich dieses Gefühl. Aber was hat meine Frau davon, wenn ich Ihnen hier von meiner Liebe zu ihr erzähle und ihr meine Liebe nicht zeige?"

Eltern empfinden keinen Widerspruch ihrer Gefühle, auswärts liebevoll von ihren Kindern zu erzählen und beim Heimkommen, - genauer gesagt, beim Stolpern über die Schuhe oder die Schultaschen - ihrer Kinder zu schreien: "Du bist so schlampig, aus dir wird nie etwas!" Mit Sprüchen wie diesen drücken Erwachsene aus, dass nicht nur die Handlung des Kindes - zum Beispiel seine Unordnung - falsch ist, sondern das Kind selbst "falsch, unwert" ist. Diese Eltern haben ihre Gefühle "Achtung und Liebe" nicht in entsprechende Taten, den respektvollen, gleichwürdigen Dialog umsetzen können.

Kinder sind kompetent. Sie sind in der Lage, uns Rückmeldungen zu geben, die es uns ermöglichen können, unsere eigene verlorengegangene Kompetenz wiederzugewinnen, und die uns helfen, unsere unfruchtbaren und nicht liebenswerten Handlungsmuster abzulegen.

Jesper Juul, Familientherapeut aus Dänemark

"Kinder sind kompetent", so lautet die Hauptaussage des Familientherapeuten. Das bedeutet: "Kinder sind in der Lage, uns Rückmeldungen zu geben, die es uns ermöglichen können, unsere eigene verlorengegangene Kompetenz wiederzugewinnen, und die uns helfen, unsere unfruchtbaren und nicht liebenswerten Handlungsmuster abzulegen."

In der "guten, alten Zeit" hatten Vater und Mutter eine Art formale Autorität. "Moderne Eltern müssen eine sehr viel persönlichere Autorität entfalten, wenn ihnen ihre Führungsrolle gelingen und Machtmissbrauch vermieden werden soll.", beschreibt Jesper Juul die "modernen" Machtverhältnisse in Familien. Eltern hätten die Aufgabe, ihre Kinder zu führen, zu leiten und zugleich für möglichst gute Entwicklungsbedingungen zu sorgen.

"Das bedeutet, dass die Eltern, die die Macht traditionsgemäß haben, einen großen Teil abgeben müssen, ohne zugleich die Führung aus den Händen zu geben. Diese Aufgabe ist unglaublich schwierig ... Man kann das nur zusammen mit den Kindern erlernen, während sie allmählich aufwachsen." Konflikte seien nicht das Problem, sie zeigen lediglich, dass ein Lernprozess stattfindet.

Authentische Eltern sind besser als theroretische Eltern. Eltern, die Fehler machen und die Verantwortung für ihre Irrtümer auf sich nehmen, sind besser als solche, die perfekt zu sein versuchen.

Jesper Juul, Familientherapeut aus Dänemark

Der Familientherapeut weist energisch darauf hin, dass zwar das "Ja", das Bejahen, am Beginn aller Liebesbeziehungen stünde, dass das "Nein" aber keineswegs Liebesentzug, sondern lediglich "Grenze" signalisiere. Kinder interessieren sich nicht für Macht, sie werden aber unruhig, tyrannisch, wenn Eltern ihre Führungsrolle - die ein Nein inkludiert - verweigern. "Eltern sind für die Situationen mit ihren Kindern verantwortlich, zwar können die Kleinen mitentscheiden, was es zu essen gibt, für die Stimmung am Tisch sind aber die Erwachsenen verantwortlich. "Jetzt hab ich für dich gekocht und du spielst mit deinem Essen! Sei ein liebes Kind, dann machst du Mama glücklich!" Aussagen wie diese verderben nicht nur kurzfristig den Appetit, sie schieben Kindern Verantwortung zu, die ihnen nicht zusteht und die sie auch nicht wahrnehmen können.

Da geloben Eltern bei der Geburt ihres Kindes, niemals wie die eigenen Eltern zu sein, nicht so verletzend, so streng, so abwertend. Doch kaum kommt das Kind in Hörweite, ist alles ganz anders: "Ohne mich wärst du hilflos, ohne mich machst du nichts richtig!" - das sind die Botschaften, die bei gegängelten Kindern hängen bleiben und erschreckend den Sprüchen der eigenen Eltern ähneln.

"Authentische Eltern sind besser als theroretische Eltern. Eltern, die Fehler machen und die Verantwortung für ihre Irrtümer auf sich nehmen, sind besser als solche, die perfekt zu sein versuchen", ermuntert Jesper Juul. "In Familien, in denen die Eltern ständig darum bemüht sind, Vernunft und Anstand zu wahren, kommen die Kinder zu dem Schluss, das mit ihnen etwas nicht in Ordnung ist. Es ist nichts Falsches daran, hin und wieder unvernünftig zu sein, unvernünftige Gefühle, unvernünftige Grenzen und unvernünftige Bedürfnisse zu haben. Es ist nur ein Zeichen dafür, dass man ein lebendiger Mensch ist, der nicht auf eine Rolle reduziert ist, und dass die Akzeptanz durch die Umwelt nicht unbedingt das Wichtigste im Leben ist", so das Plädoyer Juuls.

Jesper Juul

Jesper Juul

1948 in Vordingborg, Dänemark, geboren, arbeitete zunächst als Lehrer und ist als Gruppen- und Familientherapeut tätig: 1979 gründet Walter Kempler, ein amerikanischer Psychiater und Familientherapeut "The Kempler Institute of Scandinavia", das Jesper Juul seit vielen Jahren leitet. Er ist seit 1991 Gastprofessor für Psychologie an der Universität Zagreb und Ausbilder für Familientherapie in Kroatien und Bosnien.

1948 in Vordingborg, Dänemark, geboren, arbeitete zunächst als Lehrer und ist als Gruppen- und Familientherapeut tätig: 1979 gründet Walter Kempler, ein amerikanischer Psychiater und Familientherapeut "The Kempler Institute of Scandinavia", das Jesper Juul seit vielen Jahren leitet. Er ist seit 1991 Gastprofessor für Psychologie an der Universität Zagreb und Ausbilder für Familientherapie in Kroatien und Bosnien.

Josefine ist 16, sie ist eines von sieben Kindern tüchtiger Eltern - der Vater arbeitet im Marketingbereich, die Mutter ist Polizistin. Eine halbe Stunde lang kritisieren die beiden in der Praxis Jesper Juuls ihre Tochter: "Josefine lügt, stiehlt, hat die falschen Freunde und nimmt Drogen." Das Mädchen lächelt und sagt: "Alles nicht wahr". Vom Therapeuten gefragt "Was denkst du über deine Eltern?", antwortet sie "Die sind in Ordnung!"

Jesper Juul regt Josefines Eltern an, Freundschaft zu ihrer Tochter aufzubauen: Freundschaft bedeute, Vertrauen zum Freund zu entwickeln und sich ihm gegenüber verletzlich zu machen. Der Vater meldet sich nach einer Woche mit der Frage: "Was meinen Sie mit Freundschaft, was ist das genau?" Schließlich machen Vater und Tochter eine Reise, der Vater zeigt Josefine die zwei Schulen, aus denen er - unter anderem wegen Drogenkonsums - verwiesen wurde, sie besuchen auch die Großmutter, die Mutter der Mutter. Diese zeigt sich erstaunt über den Grund der Reise, das Sich-Kennen-Lernen, und fragt ihren Schwiegersohn: "Kennst du deine Tochter denn nicht?" Die Antwort ist knapp: "Kennst du deine Tochter?" Diese Tochter hat sieben Kinder geboren, ist eine korrekte Polizistin, eine Frau, die ihre Rolle als Mutter tüchtig ausfüllt. Sie selbst war das einzige Kind einer Bauernfamilie, der Obhut einer depressiven Großmutter ausgeliefert.

Diese Einsamkeit sollten ihre Kinder nie erfahren, sie sollten nie alleine sein, es musste genug Geld zur Verfügung stehen, nie sollten sich die Kinder über etwas Sorgen machen. Josefines Mutter hat sich unverletzlich gemacht, sie erledigt ihre Aufgaben, sie erzieht und versorgt ihre Kinder und alles geht gut, sechs Kinder sind zufrieden - und Josefine ist es, die alte Verletzungen lebendig und bedrohlich nahe macht. Sie wehrt sich dagegen, eine Funktion für ihre Eltern zu erfüllen, nämlich die des gut versorgten Kindes, für das die Eltern alles tun. Die Familie erscheint als eine äußerst effiziente Organisation, wo alle Mitglieder, vorausgesetzt sie passen sich an, funktionieren. Der verdeckte Plan der Eltern dabei: wenn wir Kinder bekommen, dann werden wir geheilt. Aber - die Kinder waren anders.

Schrei nach Hilfe

Generationenlang schien es die Aufgabe der Eltern zu sein, die Kinder zur Kooperation zu zwingen, das heißt, sich als Individuen der größeren Ordnung - der Familie, der Gesellschaft - gegenüber anzupassen und auf deren Wünsche Rücksicht zu nehmen. Jesper Juul hat in seiner jahrzehntelangen Praxis gesehen, dass Kinder in neun von zehn Fällen den Weg der Kooperation wählen, sie brauchen keine Erwachsenen, die ihnen Anpassung und Zusammenarbeit lehren: "Hingegen haben sie dringenden Bedarf an solchen Erwachsenen, die sie lehren, wie man in der Interaktion mit anderen für sich selber sorgt." So legt er seinen Zuhörerinnen und Zuhörern nahe, viele vermeintliche Widerstände der Kinder als Ausdruck von Kooperation zu sehen.

Da ist der Dreijährige, der sich weinend im Kindergarten nicht von der Mutter lösen will: er kooperiert mit seiner engsten Bezugsperson, der Mutter, die sich selbst noch nicht vom Kind soweit gelöst hat, dass sie es in Liebe entlassen kann. Jesper Juul übersetzt dieses und ähnliches Verhalten in die Sprache der Erwachsenen: "Liebe Mutter, etwas stimmt nicht zwischen uns - das eine oder andere ist ungeklärt. Ich mache dich darauf aufmerksam und rechne damit, dass du die Verantwortung dafür übernimmst, es zu klären, so dass wir beide uns wohl fühlen können."

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