Fesseln für die Staatsmacht

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Der Schutz der Privatsphäre ist eine relativ junge Errungenschaft der Rechtssysteme.

Die Bedeutung der Privatsphäre erscheint uns heute als keiner näheren Erörterung bedürftig; die Berechtigung, ja Notwendigkeit ihres grundrechtlichen Schutzes steht außer Streit. Dem war nicht immer so. Da die Vorstellung einer Intimsphäre vergleichsweise jung ist und die Trennung zwischen verschiedenen sozialen Rollen zur Voraussetzung hat, gab es ursprünglich auch kein Bedürfnis, entsprechende Garantien zu schaffen.

In jenem Maße, in dem sich der Ruf nach Sicherung einer "funktionalen" Privatsphäre intensivierte, wurden bereits bestehende Gewährleistungen in ihren Dienst gestellt, die ursprünglich andere Ziele hatten: das Hausrecht, das die räumliche Privatsphäre vorwegnimmt, und das Briefgeheimnis, das für die kommunikative Privatsphäre die Basis bildet.

My home is my castle

Angesichts des Sprichworts "My home is my castle" liegt es nahe, den Ursprung des Hausrechts in der angelsächsischen Tradition zu vermuten.

Einen ersten thematischen Anknüpfungspunkt bot das Verbot von Einquartierungen: Bereits die "Petition of Rights" 1627 bedauerte, dass die Einwohner mehrerer Grafschaften gegen ihren Willen und entgegen den Gesetzen und Gewohnheiten zur Aufnahme von Soldaten und Matrosen in ihren Häusern gezwungen worden waren. In weiterer Folge erklärte der "Disbanding Act" 1679 die anhaltende Praxis für unzulässig, und die "Bill of Rights" 1689 wiederholte diese Forderungen.

Eine zweite Wurzel liegt im Recht auf Sicherheit. Im England des 17. und 18. Jahrhunderts operierte die Exekutive häufig mit allgemeinen Haft-, Beschlagnahme- und Durchsuchungsbefehlen, die weder ihren Adressaten, noch den Ort der Maßnahme oder die von ihr betroffenen Gegenstände hinreichend spezifizierten. Diese Praxis traf in verstärktem Ausmaß auf Kritik, als sie in den Dienst der Durchsetzung von Steuergesetzen und Zensurmaßnahmen gestellt wurde, vor allem in den amerikanischen Kolonien. Sie litten unter Importbeschränkungen und versuchten, diese durch Schmuggel zu umgehen, was die Verwaltung zu weiträumigen Durchsuchungen bewog. Die Auseinandersetzungen wurden erbittert geführt und kulminierten in Unruhen und bewaffnetem Widerstand.

Erster umfassender Schutz

Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass die nach der Unabhängigkeitserklärung erlassenen Verfassungen der amerikanischen Gliedstaaten generelle Ermächtigungen für unzulässig erklärten. Schließlich räumte die Bill of Rights 1789 jedermann das Recht auf Sicherheit seiner Person, seines Hauses, seiner Papiere und seiner Effekten ein: ein umfassender Schutz vor Festnahmen, Durchsuchungen und Beschlagnahmen ohne Rücksicht auf deren Ort. Auch die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 in Frankreich gewährleistete ein Recht auf Sicherheit. Allerdings richtete es sich nur gegen Anklagen, Verhaftungen und Gefangenschaft und nahm im Unterschied zu den amerikanischen Verfassungen auf Durchsuchungen und Beschlagnahmen nicht eigens Bezug.

Nach Robespierres Sturz

Bald danach wurde das Hausrecht jedoch zu einem wichtigen Thema: 1792 hatten die Jakobiner spektakuläre Maßnahmen ergriffen, um die unter Druck geratene Revolution gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen. Unter anderem wurden in der Nacht vom 29. auf den 30. August 1792 alle Häuser in Paris nach verbotenen Waffen durchsucht, 3.000 Personen verhaftet. Unter der folgenden Schreckensherrschaft Robespierres verbreiteten Durchsuchungskommandos mehr als sechs Monate lang nächtliche Angst und Schrecken.

Die nach dem Sturz Robespierres erlassene Direktoratsverfassung 1795 wollte solchen Missständen einen Riegel vorschieben. Sie nahm mit Artikel 359 eine Bestimmung auf, die das Haus eines jeden Bürgers zum unverletzlichen Asyl erklärte. Im 19. Jahrhundert sahen allerdings die französischen Verfassungen wieder davon ab, das Hausrecht als Grundrecht zu verankern, dafür setzte es sich im übrigen Europa auf breiter Front durch.

Ähnlich, wie der Terror Robespierres den Kristallisationspunkt für die Anerkennung des Hausrechts bildete, schlug die staatliche Kontrolle von Briefen dem Briefgeheimnis als Grundrecht eine Bresche. Die Einführung des Postzwangs verpflichtete das Publikum dazu, Nachrichten der Post anzuvertrauen, und bot gleichzeitig dem neugierigen Staat Gelegenheit, durch Zugriff auf die Post den Nachrichtenverkehr zu überwachen. Seit Richelieu wurde es in den absoluten Monarchien Europas üblich, in den Postanstalten geheime Kammern einzurichten, die jeder Brief passieren musste und in denen Beamte Briefe geschickt zu erbrechen, rasch auszuwerten und ohne Hinterlassung von Spuren wieder zu verschließen wussten.

Briefgeheimnis geschützt

In Belgien gelang es erstmals, das Briefgeheimnis in der Verfassung 1831 zu verankern. Weil dort die Briefpost damals ein Staatsmonopol bildete, erschien diese Schutzmaßnahme als notwendiges Korrelat zum Postzwang, welche die Errichtung schwarzer Kabinette unmöglich machen sollte. Die einschlägige Bestimmung in Art 22 erklärt das Briefgeheimnis für unverletzlich und verpflichtet den Gesetzgeber zur Bezeichnung der für Geheimnisverletzungen verantwortlichen Beamten.

In Österreich nahmen nahezu alle im Gefolge der Revolutionen des Jahres 1848 entstandenen Verfassungen das Hausrecht sowie das Briefgeheimnis in den Kreis der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf. Die meisten von ihnen ließen sich in den Formulierungen von der belgischen Verfassung 1831 inspirieren.

Mit dem noch heute als Verfassungsgesetz in Geltung stehenden Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger 1867 erreicht die Entwicklung der beiden Grundrechte ihren Endpunkt. Im Art 9 erklärt es das Hausrechtsgesetz 1862 zu seinem integralen Bestandteil und ergänzt es um eine Proklamation der Unverletzlichkeit des Hausrechts. Art 10 verbietet die Verletzung des Briefgeheimnisses und ordnet an, dass die Beschlagnahme von Briefen außer im Falle einer gesetzlichen Verhaftung oder Haussuchung nur im Krieg oder auf Grund eines richterlichen Befehles in Gemäßheit bestehender Gesetze vorgenommen werden darf.

Hausrecht und Briefgeheimnis erfassen freilich nur bestimmte Aspekte von Privatheit. Wesentlichen Impulse zur Gewährleistung einer integralen Privatsphäre hängen eng mit der Erfindung von Photographie und Tonaufzeichnung zusammen. Vor dem Hintergrund dieser neuen Errungenschaften und ihres Einsatzes in der Boulevardpresse an der amerikanischen Ostküste plädierten Warren und Brandeis 1890 für die Anerkennung eines Rechts auf Privatheit, das jene Lücken schließen sollte, die die einsetzende technische Revolution in den Eigentumsschutz gerissen hatte.

Recht auf Privatheit

Das von ihnen propagierte "right to privacy" war als Persönlichkeitsrecht konzipiert, das gegen Übergriffe anderer Bürger Schutz bieten sollte, nicht gegen Eingriffe des Staates. Es hat aber auch eine verfassungsrechtliche Debatte ausgelöst, ohne die es wohl nicht zu Art 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 gekommen wäre, der willkürliche Eingriffe in das Privatleben, die Familie, die Wohnung und den Briefverkehr sowie Beeinträchtigungen der Ehre und des Rufes verbietet.

Diese erste Gewährleistung einer umfassenden Privatsphäre diente wiederum der Europäischen Konvention zum Schutze der Grundfreiheiten und Menschenrechte zum Vorbild, die in Art 8 den Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung und des Briefverkehrs verbrieft. Diese Bestimmung hat in Österreich seit dem Beitritt zur Konvention im Jahre 1958 Verfassungsrang.

Telefongeheimnis erst 1974

Nach dem zweiten Weltkrieg wurde auch das Telegrafen- und Fernsprechgeheimnis in ganz Europa zunehmend als schutzbedürftig anerkannt und in die neuen Verfassungen aufgenommen. Österreich folgte diesem Trend durch die Gewährleistung der Unverletzlichkeit des Fernmeldegeheimnisses im Jahre 1974. Dieses Grundrecht lässt Eingriffe nur auf Grund eines richterlichen Befehls in Gemäßheit bestehender Gesetze zu.

Das kurz darauf im Jahre 1978 in die Verfassung aufgenommene Grundrecht auf Datenschutz hat eine andere Stoßrichtung. Während das Fernmeldegeheimnis lediglich eine durch die gestiegene Bedeutung neuer Kommunikationswege entstandene Schutzlücke füllt, verwirklicht das Grundrecht auf Datenschutz einen innovativen Ansatz. Die technische Revolution schuf ein zuvor unbekanntes Bedrohungspotenzial: Die Entwicklungen der elektronischen Datenverarbeitung erlauben es, immer größere Datenmengen zu speichern, immer rascher zu verarbeiten, mit anderen Informationen zu verknüpfen und jederzeit wieder auf sie zuzugreifen.

Als Folge der Computerisierung und Digitalisierung von Informationen droht dem Bürger die Kontrolle über die ihn betreffenden Daten zu entgleiten, nicht nur gegenüber dem Staat.

Um nicht zum gläsernen Menschen zu werden, benötigt er besonderen grundrechtlichen Schutz. Dem Bedürfnis nach umfassender informationeller Selbstbestimmung trug das Datenschutzgesetz 1978 Rechnung: In Paragraf 1 (eine Verfassungsbestimmung) räumt es jedermann das Recht auf Geheimhaltung seiner personenbezogenen Daten ein, soweit daran ein schutzwürdiges Interesse besteht.

Das Recht auf Geheimhaltung wird durch Begleitrechte auf Auskunft, Richtigstellung und Löschung ergänzt und verpflichtet sowohl den Staat als auch private Rechtsträger. Diese Rechte hat das Datenschutzgesetz 2000 übernommen und in einzelnen Punkten geringfügig modifiziert.

Der Autor ist Professor für Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität Salzburg.

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