Freie Hand für Gebärden

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Nachdem die Gehörlosenverbände dies jahrzehntelang vergeblich gefordert hatten, soll nun die Gebärdensprache endlich anerkannt werden. Ein wichtiges Symbol. Für die tatsächliche Gleichstellung hörbeeinträchtigter Menschen braucht es freilich mehr.

Eine gehörlose Frau arbeitet seit Jahren als Lohnverrechnerin bei einer Firma. Als das Unternehmen in Konkurs geht, muss sie bei einer anderen Firma von ganz unten anfangen. Sie möchte Lohnverrechnerin bleiben, muss jedoch putzen. Als der Chef ihr eine Maschine beim Fließband erklärt, ist die Kommunikationssituation zu schwierig - sie versteht nichts. In der Folge erzählt der Chef herum, dass die Frau unbrauchbar sei..."

Missverständnisse, fehlende Hilfestellung, Vorurteile: Was im aktuellen, ersten Diskriminierungsbericht der Österreichischen Gebärdensprachgemeinschaft zu lesen ist, erleben viele der rund 10.000 gehörlosen und 500.000 hörbehinderten Menschen in Österreich am eigenen Leib.

Säumiges Österreich

Nicht minder demütigend empfinden sie den langen Kampf für die Anerkennung ihrer primären Ausdrucksform: der Gebärdensprache. Obwohl das Europäische Parlament seine Mitgliedsstaaten 1988 und 1998 in zwei Petitionen dazu aufgefordert hat, ihre nationale Gebärdensprache anzuerkennen, ist Österreich nach wie vor säumig. Seit 1998 ist die Österreichische Gebärdensprache (ögs) - die mit Hilfe von Fingerhaltungen, der Bewegung und Stellung der Hand am Körper und des Gesichtsbildes arbeitet - immerhin als Gerichtssprache anerkannt. "In allen anderen Bereichen des Lebens und des Kontaktes mit dem Staat sind wir aber auf uns gestellt, müssen uns selbst um Dolmetscherinnen kümmern und sie bezahlen", kritisiert Helene Jarmer, Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbunds.

Überhaupt eine Dolmetscherin zu finden, ist nicht ganz leicht: Rund 60 sind es in Österreich - 40 Prozent davon Kinder gehörloser Eltern, die selbst zweisprachig aufgewachsen sind. "Im Vergleich dazu gibt es in den skandinavischen Ländern bis zu 400 Dolmetscher", sagt Barbara Gerstbach, Obfrau des Österreichischen Gebärdensprach-DolmetscherInnen-Verbands.

Zumindest auf symbolischer Ebene kann man nun auf Besserung hoffen: So ist in jenem Bündelgesetz, das gemeinsam mit dem Bundesbehindertengleichstellungsgesetz am Dienstag im Ministerrat verhandelt wurde (siehe unten), auch die Anerkennung der Gebärdensprache in der Verfassung vorgesehen. "Gehörlose Menschen könnten dadurch frei zwischen beiden Sprachen - Deutsch und ögs - wählen und hätten auch mehr Rechte, bilingual aufzuwachsen", betont Helene Jarmer vom Gehörlosenbund.

Derzeit können betroffene Kinder von solchen Zuständen freilich nur träumen. So gebe es laut Jarmer österreichweit keine einzige Einrichtung, die gleichberechtigten bilingualen Unterricht für Gehörlose anbieten würde. Im Gegenteil: In den sechs Spezialeinrichtungen für Gehörlosenbildung würde die Gebärdensprache systematisch an den Rand gedrängt: "Es gibt kein Fach ögs, keine Lehrerinnen und Lehrer mit ögs-Kompetenzen, keinen Willen und kein Interesse, in ögs zu unterichten", lautet Jarmers Fundamentalkritik. Die Folgen der fehlenden sprachlichen Förderung seien verheerend: "Viele gehörlose Kinder haben im Kindergartenalter den Wortschatz eines zweijährigen Kindes. Ein 15-jähriges gehörloses Kind hat den Wortschatz eines achtjährigen hörenden Kindes."

Auf den Händen sitzen

Auch die Sprachwissenschafterin Verena Krausneker übt an der gängigen Unterrichtspraxis Kritik. Zwar seien die Zeiten vorbei, in denen gehörlose Kinder auf ihren Händen sitzen mussten und dafür bestraft wurden, wenn sie gebärdeten - die Bedeutung der Gebärdensprache als Erstsprache werde freilich noch immer ignoriert: "Wenn man gehörlosen Kindern den Zugang zur Bildung und zur deutschen Schriftsprache über ihre Erstsprache nicht gewährt, kommt es zu massiven Einschränkungen."

Im Bundesinstitut für Gehörlosenbildung in Wien/Hietzing, das mobile Frühförderung, Kindergarten, Volks-, Haupt- und Sonderschule, Polytechnikum und ab Herbst 2005 auch ein integra-tiv geführtes Oberstufenrealgymnasium beherbergt, sieht man die Dinge indes anders: "Wir versuchen die Kinder vor allem mit der Lautsprache zu erreichen", erzählt eine Lehrerin, während sie einem siebenjährigen Knirps mit Worten und Gebärden das abc näher bringt. "Es ist wichtig, dass sie einfache Grundbegriffe der Lautsprache beherrschen, um Alltagssituationen meistern zu können."

Künstlicher Hörersatz

In den beiden ersten Volksschulklassen ist heute "Stationentag": Kinder der "hörgerichteten" Klasse und jene der "gebärdensprachlichen" Klasse sollen gemeinsam "mit allen Sinnen" die Buchstaben kennen lernen. Vier von ihnen haben ein etwas auffälligeres Hörgerat: Ihnen wurde ein "Hörgerät" in die Hörschnecke (Cochlea) im Innenohr eingesetzt. Das Implantat übernimmt dort die ausgefallenen Funktionen der Haarzellen, indem es elektrische Reize direkt an den Hörnerv bringt. Zusätzlich zum Implantat wird ein Außenteil wie ein Hörgerät hinter dem Ohr getragen, das Mikrofon, Batterie oder Akku und einen Chip zur Stimulationsverarbeitung enthält.

Das Wunderding führt freilich nicht immer zum Erfolg: In einer Studie der deutschen Spracherwerbsforscherin Gisela Szagun an 22 hörenden und 22 jung implantierten Kindern haben nur zehn Probanden die Sprache ähnlich wie normal hörende Kinder erworben. Zwölf Kinder waren nach drei Jahren Spracherwerb nur zu Zweiwortäußerungen fähig.

Im Bundesinstitut für Gehörlosenbildung, wo 45 der insgesamt 192 Kinder ein Cochlea-Implantat tragen, hat man bessere Erfahrungen: "Bei uns kommen rund 90 Prozent der Kinder zur Lautsprache", erklärt die Direktorin Katharina Strohmayer.

Eines der Kinder, dem das nicht gelang, ist Mustafa (Name von der Redaktion geändert). Der siebenjährige, aus einer Migrantenfamilie stammende Bub spricht trotz Operation bis heute nicht auf die Lautsprache an. "Auf die Gebärdensprache reagiert er aber hervorragend," meint seine Lehrerin. "Es wäre besser verlaufen, wenn man mit dem Buben schon früher mit Gebärden gearbeitet hätte."

"Der Junge war zwar schon im Kindergarten in der gebärdenden Gruppe", entgegnet die Direktorin. "Er nimmt aber erst jetzt in der ersten Klasse die Gebärde wirklich an." Dass seine Eltern jetzt mit einem Gebärdensprachkurs begonnen haben, erleichtere die Kommunikation. Insgesamt sei die Technik bei den neuen Implantaten besser geworden, so Strohmayer. "Mittlerweile werden die meisten Kinder, bei denen man als Neugeborene eine Hörbehinderung feststellt, mit einem Jahr operiert. Das gewährleistet eine sehr gute Sprachentwicklung." Wichtig sei, dass die Eltern frei entscheiden könnten, was sie für ihr Kind wollten. Und Tatsache sei eben, dass die meisten hörenden Eltern für ein Cochlea-Implantat votieren würden.

Eltern bei der Sprachwahl für ihre Kinder freie Hand zu lassen, greift indes für Verena Krausneker zu kurz: "Sie bräuchten eine neutrale Beratung. Derzeit werden sie hauptsächlich von Ärzten beraten - das ist ein stark defizitärer und medizinischer Zugang. Doch es gibt ja tausende Gebärdensprachen und eine eigene Kultur." Zudem sollten Eltern - wie in Skandinavien - Anspruch haben auf einen Gebärdensprachkurs, um sich mit ihrem Kind überhaupt unterhalten zu können. Sonst drohe den Kindern Halbsprachigkeit.

Gehörlose im Ghetto

Die Folgen im Berufsleben sind bekannt: "60 Prozent der Gehörlosen sind als Hilfsarbeiter tätig", weiß Monika Haider, Geschäftsführerin der Schulungs- und Beratungs Gmbh "equalizent" für Gehörlose und Schwerhörige. "Viele verstehen oft nicht einmal den Text eines Anmeldeformulars". Die Ursache für dieses Defizit ortet sie in mangelnder Fähigkeit zum abstrakten Denken - ausgelöst durch zu wenig Sprachvermögen. "Hier liegt die eigentliche Gefahr der Ghettoisierung. Nicht in der Gebärdensprache."

Infos unter

www.oeglb.at und www.equalizent.com

TIPP:

Vom 11. bis 19. März findet das 6.

Europäische und Internationale ARBOS Gehörlosentheaterfestival im Wiener Theater des Augenblicks statt.

Infos unter www.arbos.at

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