Frischluft für die Seele

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Viel Action, viel Sport, viel Kultur - und wenig Muße: Immer öfter halten Stress und Zeitnot auch Einzug in den wohlverdienten Urlaub. Dabei ermöglicht es erst die Kunst des Müßiggangs, aufzutanken und zu sich selbst zu finden.

Familienurlaub auf einer Mittelmeerinsel: "Das Häuschen am Strand war ohne Fernsehen, die Animationsangebote großer Ferienanlagen fehlten. Nach einem Tag hatten meine beiden Kinder, damals im Grundschulalter, die mitgebrachten Bücher ausgelesen. Es folgten zwei Tage Klagen darüber, wie langweilig es hier (in der Hütte am Strand) doch sei. Dann erst konnten sie beginnen, den Freiraum zu genießen. Aus Steinen und Strandgut wurden ganze Städte und Landschaften erbaut, Geschichten dazu erfunden. Ihre natürliche Phantasie hatte sich, befreit von äußeren Programmen, ihren Weg geebnet."

Urlaub im Temporausch

Wenn sich Helmut Hallier an seinen Inseltrip erinnert, kommt er leicht ins Schwärmen. Ohne Zweifel: Der Berliner Managementtrainer war - samt seiner Familie - tatsächlich in das ferne Reich der Muße abgetaucht. Ein Erlebnis, das nicht vielen seiner Klienten gegönnt ist, weiß der studierte Philosoph und Wirtschaftswissenschafter: "Viele Führungskräfte nehmen ihr Handy und ihren Laptop in den Urlaub mit - die kommen erst gar nicht von der Arbeit weg."

Die Freizeit und mit ihr der Urlaub, der doch Ausgleich schaffen sollte zum Stress und zur Zeitnot des Alltags, scheint dem allgegenwärtigen Geschwindigkeitsrausch zum Opfer gefallen zu sein. Folgerichtig wird der Wert eines Urlaubes immer öfter daran gemessen, wie viele besondere Ereignisse oder spektakuläre Besichtigungen darin eingebaut werden konnten, diagnostiziert Hallier in seinem jüngsten Buch "Mach langsam, wenn es schnell gehen soll."

Schneller, greller, praller: Die Tendenz zur Erlebnisdichte und Beschleunigung prägt nicht nur den Urlaub, sondern die gesamte Freizeit. Wie sonst könnte es sein, dass trotz einer messbaren quantitativen Zunahme an Freizeit - in Österreich ganze 53 Prozent der wachen Lebenszeit im Vergleich zu nur 14 Prozent für Ausbildung oder Beruf - immer mehr Menschen subjektiv unter Zeitnot leiden? Schuld an diesem unerklärlichen Schwund sind vor allem zwei Zeitdiebe, erklärt Peter Zellmann, Leiter des Wiener Instituts für Freizeit- und Tourismusforschung der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, im FurcheGespräch: "Zum einen ist es der Konsum in der Freizeit: Viele kommerzielle, aber auch ideelle Anbieter wollen in der Freizeit Platz greifen." Die Palette dieser "Zeitdiebe" reiche von sozialen Verpflichtungen bis zu wöchentlichen Tennisstunden. Der zweite Zeitdieb sei in der "Technikfalle" zu finden, so Zellmann: "Durch scheinbare technische Erleichterungen wie Geschirrspüler, Internet, Handy oder Flugzeug muten wir uns in einer Zeiteinheit immer mehr zu."

Der so entstandene Stress in der vermeintlichen "Frei-Zeit" ist umso schwerer zu verkraften, als ihre Wichtigkeit für das persönliche Wohlbefinden stetig ansteigt: Erst vor kurzem hat Peter Zellmann festgestellt, dass die Bedeutung der Freizeit mittlerweile jene von Arbeit und Beruf übertrifft. In einer repräsentativen Befragung von 1.000 Personen über 15 Jahren hatten immerhin 90 Prozent beteuert, die Freizeit sei ihnen "sehr wichtig" oder "eher wichtig". Im Hinblick auf den Beruf behaupteten das nur mehr 80 Prozent.

Leistung und Spaß zugleich

Von einer "hedonistischen Gaudigesellschaft" ist die heutige Freizeitgesellschaft freilich weit entfernt, konstatiert Zellmann: "Die Menschen haben vielmehr eine innere Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit, nach einer Symbiose von Spaß und Leistung." Diese Sehnsucht, die scharfe Trennung zwischen Freizeit und Arbeit aufzuheben, sei das hervorstechendste Merkmal der momentanen "Zeitenwende", meint der Forscher: Während das Industriezeitalter die Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte sowie eine rationale Zeiteinteilung mit sich brachte, ist die neue Wissens- und Informationsgesellschaft geprägt von einer Freizeitorientierung der Lebensstile. Entsprechend diesen beiden Zeitaltern unterscheidet Zellmann zwei verschiedene Typen von Urlaubern: "Der industriezeitlich geprägte KontrastUrlauber flüchtet sich ins Gegenteil - frei nach dem Motto Die Sau rauslassen, man gönnt sich ja sonst nichts!'" Zu diesem Zweck werfe so mancher auch den eigenen Wertekatalog kurzfristig über Bord. Der moderne Komplementär-Urlauber hingegen sei auf der Suche nach dem, was er im Alltag vermisse: "Für die einen ist das ein Bildungsurlaub, für die anderen eine Städtereise, für die Dritten Zuhausebleiben und Nichtstun."

Ist also heute, in der postmodernen Wissensgesellschaft, endlich Raum für die Muße? Nein, ist Karlheinz Geißler, langjähriger Zeitforscher und Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität der Bundeswehr in München, überzeugt: "Muße ist nicht einfach Nichtstun. Muße ist eine Form des aktiven, beschaulichen Lebens." Und davon sei man heute weiter entfernt denn je. Schuld sei vor allem die Auflösung der Trennung zwischen Arbeit und Freizeit: "Durch den Laptop kann man im Garten in der Sonne sitzen und trotzdem arbeiten." Diese Vergleichzeitigung führe zu einer weiteren Verdichtung der Zeit. Muße hingegen bedeute ihre Entzerrung.

Einzelne Entwicklungen wie der Mini-Trend zum Klosterurlaub - für den sich laut Peter Zellmann zusammen mit dem "Esoterik-Urlaub" rund vier Prozent der Österreicherinnen und Österreicher entscheiden - würden an der faktischen Abschaffung der Muße nichts ändern, so Geißler: "Natürlich gehen Manager zuhauf ins Kloster und meinen dort Muße zu erleben. Aber sie nehmen dabei immer Handy und Laptop mit!" Sein Fazit: "Die Muße ist uns eben seit 400 Jahren systematisch ausgetrieben worden."

Lange Zeit galt "Muße" als Privileg der Oberschicht: "Die gesamte Athener Demokratie bestand nur aus Leuten, die der Muße gehuldigt haben", weiß Zeitforscher Geißler. Nicht umsonst predigte Aristoteles: "Der Mensch lebt um der Muße willen." Im kirchlichen Bereich wiederum unterschied man zwischen der "vita activa" und der "vita contemplativa": erstere war den Brüdern vorbehalten, zweitere den Patres. Mit dem Protestantismus ging jedoch eine fortschreitende Heiligung der Arbeit und Abwertung des Müßiggangs einher: Das Sprichwort vom Müßiggang als "aller Laster Anfang" entstand.

Diese Umwertung der Werte fand auch ihren begrifflichen Niederschlag: War im Lateinischen das Wort "otium" (Muße, Müßiggang) positiv besetzt und "neg-otium" (Arbeit, Tätigkeit) nur dessen Verneinung, so ist im Deutschen der Begriff "Frei-Zeit" die Negation der übrigen, höher zu wertenden Zeit.

Ferien statt Feiertagen

Als Ende des 19. Jahrhunderts die Produktivität der Industriegesellschaft stetig zunahm, forderte die Arbeiterschaft endlich Phasen der Erholung - und erkämpfte schlussendlich das Recht auf Urlaub. Waren bis dahin kirchliche Feiertage kollektive Formen der Freizeit, so entwickelte sich der Urlaub als individuelle Variante von "Freizeit am Stück".

Heute befindet sich diese scharfe Trennung zwischen Arbeit und Freizeit - wie bereits erwähnt - wieder in Auflösung. Von der Muße als Lebens-Form, in der die Welt beschaut und verinnerlicht wird, ist freilich kaum etwas übrig geblieben. Dabei bedarf es der Muße, "um zu sich selber zu kommen", ist Karlheinz Geißler überzeugt. Als marktwirtschaftliche Formen der Muße finden sich heute zwar Beratung, Therapie und Supervision. Sie sind freilich relativ fremdbestimmt. Muße bedarf hingegen eigener Anstrengung: "Sie kommt erst dann zum Vorschein, wenn man die Langeweile überstanden hat", so Geißler. Langeweile selbst sei nichts anderes als erzwungener Konsumverzicht. In diesem Moment werde man auf sich selbst zurückgeworfen.

Müßiggang statt Burn-out

Immer mehr Menschen muten sich jedoch diese Konfrontation mit sich selbst nicht zu - auch nicht in den Ferien: "Viele missverstehen den Urlaub als Fortsetzung der Berufsgeschwindigkeit für andere Inhalte. Dann dürfen sie sich nicht wundern, wenn sie gestresst nach Hause kommen", warnt der Psychotherapeut und Seelsorger Arnold Mettnitzer. Die Angst, nicht mehr wichtig zu sein, treibe viele in eine "Beschäftigungsmanie, die ihnen den Atem nimmt und dazu führt, dass die Seele nicht mehr mitkommt." Die Folge: Panikattacken und Burn-out. Im Gegenzug plädiert Mettnitzer dafür, den Urlaub zur Entschleunigung des Lebens zu nutzen. "Dadurch bekommt auch die Seele Frischluft."

Dass auch der Geist profitiert, wissen Künstler und Intellektuelle nur zu gut. Folglich ist unter ihnen die Sympathie für den Müßiggang besonders stark ausgeprägt - wie auch ein Blick auf die Homepage der Bremer Initiative "otium" zur Rehabilitierung von Muße und Müßiggang (www.otium-bremen.de) beweist: "Muße und Wohlleben sind unerlässliche Voraussetzungen aller Kultur", wird hier Max Frisch zitiert. Und auch Franz Kafka darf nicht fehlen: "Müßiggang ist aller Laster Anfang - und aller Tugenden Krönung."

Buchtipps:

Mach langsam, wenn es schnell gehen soll

Zeit gewinnen für das Wesentliche

Von Helmut Hallier, Herder spektrum, Freiburg/Br. 2002, 258 S., TB, e 9,20

ZEIT - verweile doch ...

Lebensformen gegen die Hast

Von Karlheinz A. Geißler und Karl Weibl (Illustrator), Herder spektrum, Freiburg/Br. 2000, 265 S., TB, e 12, 20

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