Für Biedermänner beim Brandstiften

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Geht es um pragmatische Regeln oder um das bedrohte Kulturerbe? Und was haben Leitkultur und Christkind gemeinsam?

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Geht es um pragmatische Regeln oder um das bedrohte Kulturerbe? Und was haben Leitkultur und Christkind gemeinsam?

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Das Christkind ist ein praktischer Begriff. Im Gespräch mit Kindern bezieht er sich auf ein geheimnisvolles Wesen; zwischen Erwachsenen auf einen Teil des Weihnachtsrummels. Es ist bemerkenswert, wie leicht das Wort sich beiden grundverschiedenen Kontexten anpasst. Die ,,deutsche Leitkultur" operiert mit einem ähnlichen Muster.

Die handgreifliche Ebene ist das Zusammentreffen divergenter Lebensweisen in westlichen Konsumdemokratien. In solchen (unseren) Verhältnissen kann nicht alles drunter und drüber gehen. Historisch erklärbare Präferenzen garantieren Übersichtlichkeit. Sie gestatten den Bezug auf mehrheitlich akzeptierte Werte und begründen jene minimale Planbarkeit, ohne die sich weder U-Bahnen, noch die Reform des Pensionswesens realisieren lassen.

In Demokratien sind solche Ordnungsvorgaben ebenso unverzichtbar wie in anderen Staatsformen. Im Unterschied zur Konkurrenz leiten sie sich bekanntlich aus Mehrheitsentscheidungen der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ab. Leitkultur heißt in diesem Sinn: Die Mehrheit der Bevölkerung bestimmt die allgemeine Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung. Mit dem Bestehen regionaler und nationaler Gepflogenheiten verbindet sich nichts Geheimnisvolles. Das ist der eine Begriffsgebrauch.

Doch die skizzierte Situation enthält ein schwerwiegendes Problem. Auch wenn wir gut in demokratiefreundlicher Rhetorik trainiert sind, lässt sich eine Bruchstelle kaum übersehen. Weder die Geschichte eines Landstrichs, noch die Entwicklung einer Person, unterliegen der Autorität periodisch wechselnder Majoritäten. Demokratische Staatswesen europäischer Prägung haben es bisher verstanden, das abstrakte Postulat politischer Gleichberechtigung mit relativ homogenen kulturellen Vorgaben zu verbinden. Diese Synthese beginnt zu desintegrieren. Die Bruchstelle: Lebensentwürfe sind nur in schmalen Bereichen durch Abstimmungen revidierbar. In jedem Erwachsenen steckt ein Kind. Die Adaptionsfähigkeit der Mitglieder des spätbürgerlichen Gesellschaftsverbandes stößt an Grenzen und dort entsteht das Bedürfnis nach Leitkultur in einem zweiten Sinn. Es muss auch Überzeugungen geben, für die man nicht auf Stimmenzählung angewiesen ist. Das sei, sagt die Aufklärungstradition seit den Religionskriegen, Privatsache.

Im Augenblick erleben wir eine vehemente Gegenbewegung. Der Glaubenswille der Mehrheit wird über politische Verhandlungen gesetzt. Leitkultur heißt dann: Teilnehmer im demokratischen Prozess haben sich nach den Vorstellungen tonangebender Instanzen im Staatswesen zu richten. Der Unterschied ist, nach Bedarf, hauchzart oder knüppeldick. In beiden Versionen ist vorgesehen, dass sich ein System von Einstellungen durchsetzt. Eine Mehrheit, die auf gemeinsamen Erfahrungen beruht - oder diese Erfahrungen als Argument für sich. Die Hausherren berufen sich darauf, dass dieser Staat den Hausbesitz regelt und dass sie legitim zu ihrem Vorsprung gekommen sind. Oder sie berufen sich darauf, dass sie eben die Hausherren sind.

Die Schwäche im demokratischen Konzept ist nicht vom Tisch zu wischen. Wir brauchen Formulierungen, die es gestatten, davon zu sprechen, dass kulturelle Zusammenhänge stellenweise unhintergehbar und hegemonial verfasst sind. Das ist jedoch kein Argument für den Gebrauch des Wortes ,,Leitkultur". Sein wichtigstes Merkmal besteht darin, dass er Parteipolitikern den fliegenden Wechsel zwischen den Gepflogenheiten demokratischer Auseinandersetzung und der Ergriffenheit von historischen Aufträgen erleichtert. Wenn SkeptikerInnen zugegen sind, geht es um pragmatische Regeln; unter uns gesagt aber schnell um das bedrohte Kulturerbe. Worin besteht das? Lieber erkläre ich jemandem das Christkind. Leitkultur ist ein praktischer Begriff. Für Biedermänner beim Brandstiften.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität Wien.

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