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Das Tieropfer ist ein Ritual, das quer durch die Menschheitsgeschichte und in vielen Kulturen verbreitet ist.

Als das Blut aus ihm herausgeflossen war und das Leben die Gebeine verlassen hatte, zerlegten sie es [...], alles nach der Ordnung." Nach der Ordnung, oder dem Gebrauche, kata moiran, gehen die Männer vor, von deren Opfer an Athene im dritten Buch der Odyssee berichtet wird. Alles, was das große öffentliche Ritual des Tieropfers, die thysia, bei den alten Griechen bestimmt hat, ist dort nachzulesen. Es wird ein makelloses Tier ausgesucht, geweiht, rituelle Handlungen wie das Voropfer von Gerstenkörnern und Waschungen werden vollzogen, der Kopf des Tieres wird hinaufgebogen, dass das Blut zuerst zum Himmel spritzt, bevor es Altar oder Erde berührt. Der Opferschrei der Frauen, das Ausbluten und das Auffangen des Blutes in einer Schale, das Zerlegen des Tieres nach festen Regeln, das Opfer an die Götter, und das erst darauf folgende Braten und gemeinsame Verzehren des Fleisches, all das geschieht nach festgelegten Regeln.

So wird der grausame Akt des Zerstörens und Einverleibens eines lebendigen Wesens für den Bürger der Polis durch einen kulturellen Code geregelt. Das Opferritual unterscheidet sich damit klar von dem raubtierhaften Verschlingen, das etwa Euripides in den Bacchantinnen als Teil der barbarischanimalischen Ekstase der Dionysos-Anhängerinnen schildert. Stattdessen findet ein gemeinschaftlicher Austausch von Lebenskraft statt im Kontext von Austausch und Kommunikation zwischen den Menschen und den Göttern und den Bürgern der Gemeinde. Das Ineinander von Gemeinschaftsritual, Schlachtung und Mahl zeigt sich in dem Wort mageiros, das den Schlachter, den Opferdiener und den Koch bezeichnet.

Regulierung des Tötens

Belehrt von Kulturanthropologie, Bibelwissenschaft und verschiedenen Kulturwissenschaften ist leicht festzustellen, dass soziale Regulierung des Schlachtens - als Voraussetzung für den Fleischverzehr - weit verbreitet ist. Die gemeinschaftsstiftende Funktion des Opfers, die auch darin besteht, dass sie einen Bundesschluss begleitet, ist beispielsweise im Alten Testament gut belegt, etwa in Genesis 15 und Exodus 4.

In der traditionellen Lebensweise auf Neuguinea war das Töten der wichtigsten Haustiere, der Schweine, und die Verteilung des Fleisches, eine öffentliche und genau geregelte Angelegenheit. So haben viele Theorien des Opfers die sozial-regulative Funktion des Rituals in den Vordergrund gestellt, ob es um die Erfahrung von Gemeinschaft mit den Göttern oder die Verbindung von heiliger und profaner Sphäre gehe.

Gottheit im Tier verzehren

Solches zeigt sich am deutlichsten in der Idee des Verzehrs der Gottheit, wie in den griechischen Mysterienreligionen, aber auch anlässlich bestimmter aztekischer Opferrituale. Oder man hat in der Ritualisierung des Schlachtens die Regelung des Umganges mit den für das Bestehen der Gemeinschaft notwendigen Ressourcen erblickt.

Andere, wie der frankoamerikanische Kulturwissenschafter René Girard, stellen den Aspekt der Kanalisierung der Gewalt in den Mittelpunkt. Die Konflikte innerhalb einer Gesellschaft würden demnach durch ihre Lenkung auf ein neutrales Objekt, den Sündenbock, gelöst. Dieser werde durch diese Funktion zu einem heiligen Objekt, das sakrale Opfer institutionalisiere diesen Vorgang. Die Idee des Heiligen werde somit aus dem Geist der Gewalt geboren.

Theorien des Tieropfers

Es ist nicht verwunderlich, dass ein verbreitetes, aber nicht immer unmittelbar verständliches Kulturphänomen wie die rituelle Schlachtung solche universalen Erklärungen hervorruft. Eine umfassendere Theorie wird aber das Tieropfer im Kontext des Allgemeineren, den der Gabe überhaupt, zu verstehen suchen. Diese - sei sie ein Geschenk, das Menschen einander zu unterschiedlichen Anlässen machen, sei sie ein Opfer für Ahnen oder Götter - schließt nicht notwendig die physische Zerstörung des Dargebrachten ein.

Die Erstlingsgabe an die Gottheit, das Darbringen von erstgeborenem Vieh in nomadischen oder von Erstlingsfrüchten in ackerbauenden Gesellschaften, wird mitunter als Lob und Dank der Gottheit gegenüber, die gibt, aber selbst nicht bedürftig ist, interpretiert. Oft stehen Tieropfer in Zusammenhang mit Fruchtbarkeitsriten, da das Blut als Sitz des Lebens erachtet wird. Andererseits findet man zahlreiche Mythen, die von einem ursprünglichen Opfer einer Gottheit ausgehen, das rituell wiederholt würde.

So hat A. J. Jensen bei ozeanischen und indonesischen Völkern Erzählungen von der Tötung einer Gottheit entdeckt, die erst die Pflanzen und damit die Grundlage für sterbliche Lebewesen hervorgebracht hat. Laut Jensen hatte das Opfer in diesen Agrarkulturen ursprünglich den Sinn, diese Tat der Tötung einer so genannten Dema-Gottheit zu wiederholen.

Ein Ur-Opfer der Götter hatte auch in den Augen der Azteken erst die bestehende Welt hervorgebracht und diente zum Teil als Motivation für den Opferkult in ihrer Religion. Ähnliches findet man auch in der altindischen Textsammlung Rig-Veda, im Purushasukta, das von einem kosmogonischen Opfer berichtet: Aus dem geopferten Leib des ursprünglichen Wesens Purusha entsteht die Welt.

Kritik an der Tötung

Am brahmanischen Tieropfer zeigt sich auch die inner- wie interreligiöse Kritik an dieser Praxis. Es wird später insbesondere vom indischen Kaiser Ashoka (268-232 v. Chr.), dem Förderer der Asketenbewegung und des Buddhismus, bekämpft, der in seinen berühmten Felsenedikten unter anderem festlegt: "Hier darf kein Lebewesen zu Opferzwecken getötet werden". Scharfe Ablehnung der Opferpraktik findet man auch in der prophetischen Kultkritik des Alten Testaments, bei Jesaja, Amos und Hosea, die ethische Vervollkommnung als wahren Gottesdienst statt Brand- und Schlachtopfern fordern.

In der heutigenZeit hat die Praxis des rituellen Tieropfers für die Anhänger der afrokubanischen Santería in Florida auch zu gerichtlichen Streitigkeiten geführt, die zu Gunsten der Religionsfreiheit entschieden worden sind. Gerne weisen die Kultleiter in ihrer Verteidigung gegenüber Anhängern von Tierrechtsbewegungen und vegetarischen Organisationen auf die weite Verbreitung von entsprechenden Praktiken in anderen Religionen hin.

In den afroamerikanischen Religionen herrscht aber nicht die Vorstellung der Entstehung der Welt aus einem Opfer. Die rituelle Tötung von Tieren steht im Zusammenhang mit der Konzeption der Welt als einem ausbalancierten, respektive auszubalancierenden Verhältnis von Kräften. Zentral dafür ist die Idee von ashé, spiritueller Energie, die allen Dingen eigen ist und rituell gesteigert und übertragen werden kann, nicht zuletzt auch durch Opferpraktiken. Diese sind, auch als Gaben an die Geister, Begleiter vieler Rituale.

Den einzelnen Orishas (Geistwesen westafrikanischen Ursprungs) sind auch bestimmte Opfergaben, darunter Tiere, zugeordnet. Zentral ist der Austausch von ashé auch für die vielen Heilungs- und Konfliktlösungsriten dieser Kulte, die sie auch für Personen außerhalb der afroamerikanischen Bevölkerungsgruppe attraktiv machen.

Grausame Formen ersetzt

Jedenfalls lässt sich in der Religionsgeschichte öfter eine Sublimierung der Opferpraktik feststellen, etwa in der Ersetzung von grausameren Opferformen durch weniger anstößige, wie etwa auch des Menschenopfers durch das Tieropfer (wie man Genesis 22 auch lesen kann, wo Abraham statt seines Sohnes Isaak einen Widder opfert) oder im Darbringen von Teilen statt des Ganzen.

Man könnte in dieser "Pars-Pro-Toto-Struktur" ein Charakteristikum von Opferriten überhaupt erblicken, wie es Walter Burkert getan hat. Seiner Ansicht nach setzt sich in der Idee, einen Teil, etwa ein Mitglied für die ganze Gruppe zu opfern, ein altes biologisches Programm fort. Damit sind Phänomene wie das Abbeißen eines Gliedes, um einer Falle zu entkommen oder das Zurücklassen des schwächsten Tieres einer Herde als "Opfer" bei einem Raubtierangriff gemeint. Man muss Burkerts Beobachtungen nicht als vollständige anthropologische Erklärung ansehen, um seine erhellende Perspektive auf die Motivation mancher Kultpraktiken anzuerkennen.

Wie dieser Überblick in aller Kürze zeigen wollte, ist das Tieropfer eine menschheitsgeschichtlich weit verbreitete Ritualform, mit einer Vielzahl von Beweggründen verbunden, von verschiedensten kulturellen Kontexten geprägt. Es wird nicht einfach sein, eine stringente Theorie zu entwerfen, die den einen Schlüssel zur Erklärung aller dieser Praktiken liefert.

Der Autor ist Dozent am Seminar für Ästhetik der HumboldtUniversität Berlin sowie am Institut für Religionswissenschaft der Universität Wien.

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